Einleitung zur Psychosophie
Um die Jahreswende 1991/1992 war ich auf einer mehrmonatigen Reise über
die kanarischen Inseln. Ich reiste dort ohne Plan und zu Fuß, mit dem Rucksack
und dem Vorsatz, mit möglichst wenig auszukommen und auf der Suche zu sein
nach Orten, wo dieses Wenige mehr wird.
Mit der Zeit war ich auf allen Inseln unterwegs gewesen, hatte wilde Orte und
Strecken erlebt, war auf viele Menschen gestoßen in ihrem Glück und Unglück.
Und war auch eine neue Art auf mich gestoßen in meinem Glück und Unglück.
In den letzten zwölf Wochen kehrte ich an einen Platz vom Anfang der Reise
zurück: eine einsame Bucht im Norden Fuerteventuras, nur zu Fuß zu erreichen
und etwa eine dreiviertelstunde vom nächsten Dörfchen entfernt. Dort baute ich
mir eine Hütte mit dem, was ich fand: schwarze Lavasteine in allen Formen und
Größen, Treibgut vom Strand wie Holzpfähle, Plastikplanen, angeschwemmte
Bretter, verrostete Wasserrohre usw.
An dieser Hütte baute ich die ganze Zeit über, verbesserte sie mit neuen Funden
und hatte nach vielen Wochen eine runde Steinhütte mit ca. drei m²
Durchmesser und ca. 1,70 m Höhe, die den dauernden Wind abhielt. Die
Trockensteinmauer hatte zum Meer hin den Eingang und nach Osten ein
Fenster, durch das zwar manchmal der Wind hineinpfiff, durch das aber auch
die Sonne aufging und mit ihren ersten Strahlen auf das Kopfende meines Bettes
fiel. Es gab eine Feuerstelle (nachts wurde es manchmal empfindlich kühl), der
Rauch wurde durch einen Kamin aus Lavasteinen nach außen geleitet. Dieser
östliche Teil der Hütte auf der Seite des Fensters, wo auch gekocht und gegessen
wurde, war überdacht. Der mittlere, nach Süden und dem Meer ausgerichtete
Teil war unter offenem Himmel. Im westlichen Teil war eine überdachte
Schlafstatt mit einer im Treibgut gefundenen Schaumstoffmatraze.
An diesem Ort war ich mit Bauen und Suchen und Schleppen und Bauen sehr
beschäftigt. Es gab immer etwas zu tun. Trotzdem geriet ich in eine große Ruhe
hinein. Wenn es dunkel wurde, schaute ich ins Feuer und in den Sternen- oder
Wolkenhimmel und hörte immer das Meer und den Wind, schrieb Tagebuch und
fühlte mich sehr verbunden, obwohl ich völlig allein war und manchmal
tagelang keinen Menschen sah außer den Anglern vom Dorf, die hin und wieder
auf den schwarzen Felsen in der Gischt saßen, stundenlang unbewegt.
In dieser Zeit entstanden die ersten Zeilen zur Psychosophie.
februar 1992:
wie alles anfing:
wenn du ankommst, aber nicht bleiben kannst. wenn es keinen wasserhahn mehr
gibt, keinen stuhl, keinen tisch, keinen ofen, keine lampe. und wenn du dauernd
den wind in der nase hast und die nase im wind. und wenn die sterne dir jede
nacht den kopf kitzeln oder der regen dir den kopf wäscht. und wenn dir
gleichzeitig die alten taoisten das hirn aus der schädeldecke pusten und wenn dir
das herz immer weiter aufgeht, weil die eidechsen zu sprechen beginnen –
wenn du also solchermaßen rausgekickt bist aus dem gefängnis der sicherheiten,
dann entsteht eine unerbittliche hingabe an das leben. du zweifelst an dem, was
du zu wissen glaubst und ahnst eher zusammenhänge, ahnst gewißheiten hinter
dem vorhang aus widersprüchlichen erklärungen und glaubenssätzen, die dir
anerzogen wurden.
ich habe philosophische bücher gelesen und dabei gedacht: die da denken und
schreiben, sie bemühen sich um erkenntnis der welt, um ein vom eignen leben
losgelöstes wissen über die welt. sie waren oft so scharfsinnig, dass ich ihnen
nicht folgen konnte und mit der benebelten frage zurückblieb: wer hat das
geschrieben? welche inneren kräfte trieben sie zu dieser erkenntnis?
ich habe psychologische bücher gelesen und dabei gedacht: die da denken und
schreiben, sie bemühen sich um erkenntnis des menschen, um ein vom eigenen
leben abgelöstes wissen über den menschen. sie waren oft so scharfsinnig, dass
ich ihnen nicht folgen konnte und mit der irritierten frage zurückblieb: wer hat
das geschrieben? welche äußeren bedingungen erzeugten dieses bild vom
menschen?
beide, die einen wie die anderen bücher haben mir weitergeholfen, denn ich
habe ja fragen, also suche ich antworten. es gab eine menge antworten und eine
menge neuer fragen. fast schien es mir, als ob die philosophen lieber fragen und
die psychologen lieber antworten. bei den philosophen lernte ich, nach außen zu
schauen, bei den psychologen lernte ich, nach innen zu schauen, beides ist doch
notwendig. was hatte ich begriffen? erst einen teil vom einen, dann einen teil vom andern.
und dazwischen ein fruchtbarer aber schwer versöhnlicher streit.
so war ich unterwegs. und endlich schutzlos, ungeschützt von irgendwelchen
begriffen, war da der blanke blaue oder graue himmel und das sternenzelt. unter
diesem dach, dieser weite, dieser helligkeit, diesem drohen verließ ich hin und
wieder für sekunden jede neigung und haftung und auch den glauben an
irgendwelche gesetzmäßigkeiten diesseits oder jenseits dieses himmels, unter
dem ich lebte.
unter dem permanent offenen himmel, vor einem immer weiten horizont, im
unendlichen brausen des meeres und wochenlangen alleinsein entstehen
gedanken und kreisen um dies oder das. manchmal suchen sie nach wörtern,
dann habe ich diese gedanken aufgeschrieben und sie PSYCHOSOPHIE
genannt, also keine „liebe zur weisheit“ und keine „gesetzeskunde der seele“,
sondern etwas dazwischen oder dahinter. „sich gedanken machen“ ist dabei eher
ein falsches wort; ich zitiere nur die erfahrungen und höre auf einflüsterungen.
ohne neigung und haftung, wie es die psychologen beschreiben, und ohne wert
und gesetz, wie es die philosophen beschwören – wo sollte ich da noch hin?
psychosophie nenne ich die weisheit der seele, die, befreit von jedem wissen,
innere und äußere wahrheiten AHNT, um deren herleitung oder beweise sich
philosophie und psychologie bemühen