Die Stromleitung

1992

 

Auf einer Reise mit dem Zug von Warschau nach Petersburg bin ich auf besondere Weise der Ehrfurcht vor der Zähigkeit und dem Mitleid  mit der Vergeblichkeit menschlicher Bemühungen begegnet.

Der Zug rumpelt Stunde für Stunde durch das flache Land, der Blick aus dem Fenster gleitet über Wiesen, Wälder und Böschungen, wieder und wieder. Nur selten ein Pfad entlang des Bahndammes oder in der Ferne ein einsames Gehöft. Die Sonne versinkt allmählich hinter dem Land, das im Kleinen wechselt, aber sich dauernd gleicht: Wiesen, Wälder, Böschungen. In der langen Dämmerung ändert sich das Licht, aber nicht die Landschaft. Der Zug rattert über die Schienen, und draußen vorm Fenster ziehen vorbei die Silhouetten der Bäume im letzten Licht, die immer dunkleren Wiesen, die immer nahen Böschungen. Immer hungriger wird das Auge nach Anzeichen menschlichen Lebens, die wenigen Pfade, Zäune, Weidetiere und Hütten machen kaum satt. Hier herrscht Stunde um Stunde des Gleitens durch das Land nur diese flache Gegend mit Wiesen, Wäldern, Böschungen.

Aber begleitet werden die Schienen von einer alten Stromleitung entlang des Bahndammes: acht Drähte über Porzellanspulen, Mast für Mast, alle hundert Meter einer, stundenlang. Keine Frage: diese Leitung stammt aus längst vergangenen Zeiten. Die Masten stehen teilweise schief, nur mühsam gehalten von den Drähten. Andere sind umgestürzt, liegen im nachwuchernden Dickicht, die Drähte verschwinden in den Wiesen, Wäldern, Böschungen – und tauchen wieder auf, alle acht, mit dem nächsten stehenden Mast. Wie im Takt stehen die Masten, oder fallen, der Zug rattert vorbei. Sie stehen aufrecht, gestützt, schräg, hängen in den Drähten oder liegen geborsten im Gestrüpp, unerbittlich im Takt stehen sie wieder auf zuweilen, und durch alles ziehen sich die acht Drähte über die Porzellanspulen, stundenlang, tagelang.

Ich sah die Sonne untergehen hinter diesen Masten vor der Landschaft. Es wurde dunkel und der Zug rumpelte weiter. Ich machte mein Bett, schlief ein und wachte beim ersten Licht wieder auf, schaute aus dem  Fenster und sah mich wieder begleitet vom Takt dieser stehenden, hängenden, stürzenden, liegenden Masten an ihren Drähten.

Welche Kraft, welche Geduld, welcher Glaube an den Fortschritt gehört zum Bau dieser Leitung! Wie wichtig war sie wann und für wen? Und die sie gebaut haben und die sie benutzt haben: wo sind sie jetzt?

In diesen vielen Stunden des Vorbeigleitens an dieser allmählich verfallenden Leitung wurde ich dankbar für diese Ruine: Ohne Wert steht sie noch in der Landschaft, Müll dieser Art wird in unseren Zeiten schnell weggeräumt. Vielleicht wird heute der Draht und das Holz der Masten anders wichtig, als es damals war, das hoffe ich. Jeder noch stehende Mast schien mir in diesen Stunden wie eine Ermutigung für das, was die Menschen erfinden und planen und machen, für all diese ungeahnten Möglichkeiten. Und jeder hängende, stürzende und liegende Mast war mir ein Zeichen für die Vergeblichkeit dieser Bemühungen und auch dafür, wie schnell diese Mühen untergehen und wieder aufgehen in den Wiesen,Wäldern, Böschungen.

Der Draht aber verlief zwischen den stehenden und stürzenden und liegenden Masten und verband stundenlang, kilometerlang das eine mit dem anderen. Seine ursprüngliche Funktion war verloren: verrostet, vielleicht zerrissen lag er im Gebüsch und trug doch noch in sich die Idee einer Verbindung. Damals ging es um elektrische Ströme, heute und für mich ging es um anderes, eine Verbindung über Stunde um Stunde, Tag und Nacht, stehende und fallende Masten. Die Drähte liefen von Mast zu Mast, aber auch durch die Wiesen, Wälder und Böschungen. Sie liefen durch die Zwecke ihrer Planung und die Zeit ihrer Nutzlosigkeit. Sie setzten sich fort entlang der Wälder und stehenden Masten, entlang der Wiesen und stürzenden Masten und lagen mit ihren Masten in den Böschungen.

Allmählich merkte ich so in diesen Stunden, dass ich nicht die Wälder und Wiesen, nicht die stehenden oder liegenden Masten verfolgte, sondern die Drähte.