Käuzchenrufe

 2003

 

Anfang September wurden die Nächte allmählich kühl, hier an der südfranzösischen Atlantikküste. Seit vielen Jahren hatte ich immer wieder für einige Wochen hier Erholung gesucht, in der Nähe des alten Seebades Mimizan. Dieser unendlich weite Strand hatte es mir angetan. Er zieht sich zweihundert Kilometer lang, in der heftigen Brandung des atlantischen Ozeans mit lang anrollenden Brechern: Immer in der Kraft des dauernden Windes und der Wellen, und immer in der Weite und dem Licht.

Mit den Jahren hatten sich in der Saison  immer mehr junge Surfer hier eingefunden, die in ihren Neopren-Anzügen den weiten Strand belagerten, wo früher eine inoffizielle Nacktbadekultur herrschte. Und aus den stillen Geschäften und Restaurants von Mimizan-Plage war eine Fast-Food-Party-Meile mit wummernden Bässen geworden. Nun aber wehte der Septemberwind die Papiertüten durch die Straßen, viele Bars hatten schon geschlossen, und aus den wenig besuchten Cafès erklang melancholischer Jazz.

Ein paar Kilometer weiter im Hinterland hatte ich, nachdem mir Mimizan-Plage durch diese neue, mir unangenehme Kultur verleidet worden war, eine neue Bleibe gefunden. Eine “Aire naturelle”, wo das Zelt in einem Pinienhain am Rande eines großen Spargelfeldes stand, wo es still und nachts dunkel war, und wo die immer lachende Madame mit roten Backen Enten züchtete. Manchmal konnte man zuschauen, wie sie mit ihrem vierschrötigen, stummen Mann auf einem Holztisch die geschlachteten Enten rupfte, ausnahm und für der Verkauf verpackte. Vorher waren diese Enten durch den Platz gewatschelt und hatten beim Frühstück auf Brotkrümel gewartet.

Hierher fanden nur Camping-Reisende, die Stille suchten und dafür auch auf übliche Versorgungsstandards verzichten konnten. Die wenigen Toiletten, Duschen und Spülbecken waren in einer Hütte eher provisorisch gebastelt, aber sauber; weit und breit gab es weder ein Restaurant, noch eine Bar oder sonstige zivilisatorische Vergnügungen. Hier war es still unter den alten, ausladenen Pinien im Schatten. Nur ein immerwährender Wind vom Meer her brauste in deren Kronen, und im fernen Spargelfeld rieselte das Wasser aus einem weit ausladenden Sprenkler, der sich hin und wieder ein paar Meter weiterbewegte. Und natürlich die Zikaden, Tag und Nacht ein Ruf des Glücks und der Sehnsucht, das Gezirpe dauernde Gegenwart.

Nachts dann, in der Dunkelheit, kamen Geräusche aus dem Wald ringsum dazu: Knacken von Zweigen im Wind (oder durch den Tritt eines Tieres?) und die Rufe der Nachtvögel: ein Glucksen und Zwitschern, ein fremdes Rufen wie ein Anruf in einem Telefon. Das war kein Vogelnachtgesang, der in mir ein inneres Bild von dem Sänger oder Rufer erzeugte, wie vielleicht eine Nachtigall; es war eine noch mitteleuropäische, aber fremde und fast exotische Nachtwelt. Hin und wieder aber der Ruf des Waldkauzes, sein “Huhúh” war mir aus meinen Breiten vetraut. Immer wieder, wenn ich das Käuzchen höre, erinnert sich etwas in mir an den alten Aberglauben, dass der Ruf des Käuzchens den Tod bedeutet. Ein leichtes Gruseln ist dabei, wenn der aufgeklärte Geist die Seele beruhigt: ein scheuer Vogel, klein und schön, den man kaum zu Gesicht bekommt. Sei dankbar, ihn zu hören. Und wie immer hörte ich in diesen stillen Nächten hin und wieder das Käuzchen rufen neben all den fremden Vogelrufen der Nacht.

In dieser ersten Septemberwoche konnte man förmlich zuschauen, wie sich alles beruhigte und auf den Winter vorbereitete. Die Sommersaison war wie eine riesige Woge über Strand, Städtchen und die Umgebung geflutet, hatte alles mit Lärm und Erregung gefüllt. Diese Brandungswelle zog sich nun zurück und hinterließ einige allmählich verebbende Rinnsale: in den noch geöffneten Bars und Restaurants saßen vereinzelt die letzten Sommergäste, am Strand ahnte man schon die menschenleere Weite der kommenden Monate. Auch die Zeltgäste der lachenden Entenmadame hatten sich zum größten Teil schon verabschiedet. In den verborgenen Ecken des Pinienhaines standen noch zwei, drei Zelte und ein Wohnwagen, auch dieser schon ruhige Platz wurde noch stiller. Die Tage wurden kürzer, nach Sonnenuntergang wurde es kühl und im Pullover nun schaute ich nachts in den Sternenhimmel, der durch die Pinienkronen schimmerte.

Die erste Septemberwoche war schon vergangen, es wurde ringsum immer leerer, jede Geschäftigkeit ebbte ab. Eine Woche blieb mir hier noch, nach diesen vier Wochen in Wind und Licht. So lange auch schon hatte ich keine Nachrichten aus der Welt empfangen. Radio, Fernsehen, Internet, all diese Medien mit ihrer erregten Konkurrenz über das Allerneueste in der Welt waren weit entfernt. Das Pinienwäldchen bei der Madame war ein Kosmos für sich, ein kleines, beschauliches Universum, das sich zum unendlichen Atlantikstrand hin öffnete. Und je mehr die Außenreize nachließen, je gleichförmiger die Tage und Nächte wurden, desto stiller wurde es in mir; oft saß ich stundenlang am Meer oder im Wald an einem träge fließenden inneren Strom, manchmal wurde ich aus zeitlosen Zuständen wach, die ohne jeden Gedanken waren.

 

An einem dieser Tage saß ich wie immer nach dem Abendbrot unter den Bäumen und sah zu, wie die Dämmerung am Himmel im Osten heraufkam, wie der Spargelsprenkler auch im Zwielicht unermüdlich das Feld bewässerte, wie nach und nach die Sterne im Dunkel über mir glitzerten. Wie immer entstanden dann auch die Geräusche der Nacht aus den Wäldern ringsum, der Wind in den Baumkonen, ein Rascheln und Zweigeknacken, die exotischen Rufe. Auch ein Käuzchen rief bald, und es blieb nicht allein, aus einer anderen Richtung kam Antwort. Kurz darauf aus einer wieder anderen Richtung ein neues “Huhúh” –  hatten die Vögel so schnell ihren Standort gewechselt? Aber nein, das erste rief noch von seinem alten Platz aus. Es schienen immer mehr Käuzchen zu werden,  das Rufen und Antworten verdichtete sich, bis kaum noch Pausen blieben. Und schließlich riefen manchmal zwei, drei Käuze gleichzeitig aus verschiedenen Richtungen. Die ganze Nacht war von einem vielstimmigen “Huhúh” erfüllt, es waren keine einzelnen Vögel mehr unterscheidbar, von allen Seiten drang aus der tiefen Dunkelheit dieser Ruf des Todes, pausenlos, stundenlang.

Der aufgeklärte Geist hatte einige Mühe, der beunruhigten Seele zu versichern, dass es eine rationale Erklärung für diese Käuzchenhäufung und deren Aktivität gäbe. Ein spezialisierter Ornithologe könnte vielleicht von herbstlichen Versammlungen erzählen, die schon lange erforscht sind und zum seltsamen Sozialverhalten dieser eher einzeln lebenden Tiere gehören. Die Vernunft bemühte sich redlich, aber das Herz erschauerte in diesen stundenlangen Käuzchenrufen von allen Seiten. Etwas Bedrohliches lag wie ein unsichtbarer Schatten in der dunklen Nacht, jenseits des Lichtkreises meiner Lampe  begann eine tiefe Schwärze voller gespenstischer Rufe,  jeder Käuzchenschrei ein Sterben, der alte Aberglaube ließ mich nicht los.

Ich trank ein paar Gläser Rotwein in der Hoffnung, damit besser einschlafen zu können. Aber der Alkohol schien eher die irrationale Wahrnehmung zu schärfen, trotz großer Müdigkeit lag ich in den Schlafsack gehüllt und spürte, wie dünn die Zeltwände waren, die zwischen mir und den unheimlichen Botschaften ringsum waren. Ein letztes Mal bemühte sich der erwachsene Verstand um Erklärungen: zumeist sind doch Vogelgesänge Behauptungen eines Revieres, oder? Und sofort antwortete ein altkluges, ahnungsvolles Kind mit der Phantasie: dann ist ja jeder Ruf auch ein Anspruch, “Huhúh – das ist meiner” und  “Huhúh – der gehört mir” und “Huhúh – ich hab einen”, lauter Tote, Sterbende, Todgeweihte in den sich überschneidenden Revieren der Todesboten.

Die Intensität der Käuzchenrufe ließ nicht nach, manchmal in kurzen Pausen hörte man einen leichten Nachtwind in den Baumkronen rauschen, dann setzten die Botschaften in unverminderter Dichte wieder ein, wie in einem akustischen Netz gefangen lag ich da, wehrlos und einer imaginierten Tragödie unterworfen.

Irgendwann fiel ich in einem leichten Schlummer voller unruhiger Träume, aus denen ich immer wieder kurz erwachte und hören musste, dass das Rufen kein Ende nahm, die ganze Nacht nicht. Erst in der frühen Morgendämmerung verstummten die Vögel im beginnenden Gezwitscher des Tages, und ich fiel in einen tiefen Schlaf bis in den späten Vormittag hinein.

Beim Aufwachen war die Welt unverändert, die Schatten der Pinien tanzten im Wind auf dem Boden, die Enten watschelten an der Duschhütte entlang, der Spargelsprenkler zog unermüdlich seine großen Runden. Verkatert saß ich vor meinem Kaffee und einem Croissant in der schon hochstehenden, warmen Sonne und dachte zurück an diese Nacht, die wie ein Spuk über mich hinweggezogen war. Es war vorbei, der Tag war hell und friedlich und warm, das Rätsel ließ sich jetzt nicht lösen, vielleicht könnte ich zu Hause einmal über Käuzchenversammlungen recherchieren.

Ich schüttelte die Nacht mit ihren Bedrohungen und Ängstlichkeiten ab und fuhr ins Städtchen, um dort notwendige Besorgungen zu machen. Die meisten touristischen Läden hatten schon geschlossen, Metzger, Bäcker und Supermärkte für die hiesige Bevölkerung noch offen, auch ein Kiosk mit Zigaretten und Zeitungen. Auf einem Ständer hingen französische Boulevardblätter mit aufreißerischen Titelseiten, auf den meisten ein Foto mit einem kleinen Flugzeug vor einem Hochhaus. Ein schlimmer Unfall wohl, dachte ich, von den gierigen Medien jetzt im Sommerloch ausgeschlachtet, und wollte nichts davon wissen – oder hatte der klare Verstand so sehr schon wieder die Oberhand gewonnen, dass er keine Verbindung zwischen diesem Bild und der vergangenen Nacht zuließ?

Den Tag verbrachte ich an einem fast menschenleeren Strand, der sich nach Norden und Süden bis zum Horizont streckte und sich dort in einer Dunstwolke mit dem Meer verband. Eine Erschöpfung aus der vergangenen, fast schlaflosen Nacht hatte ich mitgebracht und döste im warmen Sand und im Wind, im ewigen Selbstgespräch der Brandung, komm und geh, komm und geh, komm und geh. Ich tauchte in die mächtigen brechenden Wellen, ließ mich bis an den Strand spülen und wurde von dieser atlantischen Kraft neu geladen, bis die Sonne tiefer sank und es in der stetigen Brise allmählich kühl wurde. Die Käuzchennacht war aus meinem Körper gewaschen, die dunklen Gedanken vom hellen Licht verscheucht, gereinigt und angenehm müde kam ich zu meinem Zelt zurück und machte mir ein Abendessen, während der westliche Himmel sich rötete.

In dem Wohnwagen am anderen Ende des Pinienwäldchens lebte ein deutsches Rentnerpaar, man hatte sich bei seltenen Begegnungen flüchtig gegrüßt. Sie wirkten auf mich irgendwie verbohrt und eng, ich hatte keine Lust auf Kontakt mit ihnen. Jetzt kam der alte Mann auf dem Weg von der Toilette mit einem kleinen Schlenker bei mir vorbei und brummte, mit einem seltsam zynischen Unterton: “Jetzt fängt der dritte Weltkrieg an.” Ich ärgerte mich über diese schnodderige Kontaktaufnahme mit irgendeiner Spinnerei, die diesen alten Kerl beschäftigte, wollte ihn nur los sein und sagte abweisend: “Ach so? Na dann...” und er schlurfte davon zu seinem Wohnwagen, auf dem sich eine Fernsehantenne in den Himmel reckte.

 

Erst am nächsten Tag erfuhr ich in groben Zügen, was am 11. September in New York geschehen war, packte sofort meine Sachen und fuhr nach Hause.

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