Real Campers

2016

 

In den ersten Jahren des Jahrtausends fuhr ich mit einem amerikanischen Freund von Boston aus die Ostküste entlang nach Süden bis Florida. Im späten Frühling war es damals in Boston noch kalt, die Luft roch noch nach Schnee. In Florida empfing uns dann ein subtropisch-schwüler Sommer.

Auf kurzen Stippvisiten in New York und Boston hatte ich vorher schon erste Eindrücke von den USA bekommen; es war wie ein flash-back, erst jetzt verstand ich, dass der american way of life nicht nur Kino war mit seinen typischen Bildern, Dialogen, Szenerien, sondern ein getreues Abbild einer Lebenswirklichkeit. Vieles war mir daher schon fast vertraut und kippte aus dem Fiktionalen ins unmittelbar Reale.

Gleichzeitig entdeckte ich Aspekte dieser Wirklichkeit, die in den geglätteten Bildern, die mich in Europa bislang erreicht hatten, nicht aufgetaucht waren. Obdachlose, die in Betonröhren auf Baustellen überwintern, Kleinstunternehmer in schäbigen Läden auf zehn Quadratmetern, holprige mehrfach provisorisch ausgebesserte Bürgersteige, wilde Labyrinthe aus oberirdisch gezogenen Elektroleitungen, ein Mann, der aus der Straßenbahn springt, um eine vorausliegende Weiche per Hand umzustellen – all das erinnerte mich eher an ein Schwellenland wie Indien. In den USA, einer reichen und technologisch hochgerüsteten Nation, hatte ich das nicht erwartet.

Die Reise, die vor uns lag, war nicht zu trennen von all den road-movies, die in meinem Kopf herumspukten. Über Tage fuhren wir den Highway 95 in Richtung Süden, vorbei an den Skylines der großen Städte an der Ostküste, durch sieben Bundesstaaten bis ans warme Meer in Jacksonville, Florida. Wir fuhren in einem Chrysler „Neon“, für amerikanische Verhältnisse ein Kleinwagen, die Rückbank vollgepackt mit einer provisorischen Campingausrüstung, tagelang auf dem Highway. Wir hörten gute Rock- und Blues-Musik aus den Lautsprechern und rauchten Zigarillos. Die Filmkamera für unser eigenes Road-Movie war immer griffbereit.

Im Wechsel, so war es ausgemacht, übernachteten wir in Motels nahe dem Highway oder auf staatlichen Campingplätzen in Naturschutzgebieten; unter einem festen Dach eher, solange es noch empfindlich kalt war, im Zelt dann häufiger, je weiter wir nach Süden kamen.

In den Motels erwarteten uns „king-size“- Doppelbetten mit durchgelegenen Matrazen, ununterbrochen laufende Kaffeemaschinen, vergilbte Tapeten und Vorhänge, große Fernseher, feuchte Badezimmer ohne Lüftung und immer freundliche Menschen in den Rezeptionen. Abends saß man mit einem Bier vor diesem eigenen Reihenhaus auf der Veranda, Auge in Auge mit den Limousinen vor den Türen, mit einem „Hello“ zu den Nachbarn, die auch im gelben Licht vor ihren Häusern unter dem Dach saßen, meistens auch mit einem Bier. Unserer kleine „Neon“ wirkte in der Reihe der mächtigen Karossen wie ein Fremdling aus einer anderen Welt.

Auf den Campingplätzen in den Wäldern wurden wir von Rangern empfangen und bekamen eine Platz zugewiesen: große, eingegrenzte Areale mit einer eigenen Feuerstelle, Wasserhahn und stabilen Tischen und Bänken aus Holz. Dort stellten wir unser kleines Igluzelt auf – die Mitnahme von Camping-Tisch und -Stühlen hätten wir uns für diese Campingeinrichtungen sparen können... Auf den Nachbarplätzen standen für europäische Verhältnisse riesige Wohnmobile, groß wie Busse. In der Nacht wurde es in den Wäldern rasch dunkel, die Nachbarn saßen hinter erleuchteten Fenstern vor den Fernsehern, es war still. Nur wir an unserem kleinen Feuer oder im Schein der Campingleuchte hörten die Geräusche der Nacht, ein Knistern, Schlurfen, leises Schnauben, und bekamen die nächtlichen Besucher im Licht der Taschenlampe zu Gesicht: Waschbären, Gürteltiere, Opposums.

So fuhren wir einige Tage, auf dem Highway nach Süden, aus Kälte und Regenschauern in trockenere, wärmere Gegend. In Florida begrüßten uns Palmen und spanische Radioprogramme, Alligatoren und Moskitos.

Irgendwann waren wir abends in die Nähe von Orlando gekommen, der Disney-World-Stadt, voller Animation und Spielcasinos, die von Touristen meist-besuchte Stadt der Vereinigten Staaten. Ein passendes Motel hatte sich nicht gefunden, ein staatlicher Campingplatz in einem Naturreservat war weit und breit nicht in Sicht. Wir beschlossen, unser Glück auf einem städtischen Campingplatz zu versuchen, den es in dieser touristenverseuchten Stadt ja geben musste.

Als wir uns der Stadt näherten, verwandelten sich die Stromleitungen, die den Highway begleiten, in Mickeymäuse: Über die typische Silhouette dieser Maus mit ihren großen Ohren waren die Drähte gezogen, von Mast zu Mast, bis ins Stadtzentrum hinein. Die breite, sechsspurige Einfallsstraße war gesäumt von Lokalen, Casinos und sonstigen Vergnügungszentren; von der üblichen Häufung von Industrie- und Verwaltungsgebäuden im Speckgürtel einer Stadt war nichts zu sehen. Hier ging es nur um Zeitvertreib, Animation und Remmidemmi jeder Art.

Wir fanden den städtischen Campingplatz, nahe am Zentrum, ein weitflächiges, ebenes und zum größten Teil betoniertes Gelände. Auf den Parzellen standen riesige weiße Wohnmobile, oft mit mehreren Satellitenschüsseln, akkurat in Reihen geordnet. In der Mitte, zwischen diesen Häusern auf Rädern und den perfekten Versorgungseinrichtungen mit Duschen, Toiletten, Waschmaschinen gab es eine kleine Rasenfläche: das war der einzige Ort, wo man ein Zelt aufstellen konnte.

Man sah so gut wie keine Menschen. Hin und wieder verließ ein Bewohner sein weißes Ungetüm, aber nur um so bald wie möglich wieder darin zu verschwinden. Am Ende des Platzes, hinter einem Zaun, war Bewegung, Leben, Gelächter, Lautsprecherdurchsagen. Viele junge Menschen betraten ein flaches Gebäude und verließen es wieder, in Kostümen: Mickeymäuse mit großen Plastikköpfen, Gorillas, Clowns, Aliens, Donald Ducks stiegen auf die Pritschen von großen Pick-ups und wurden jetzt, am hereinbrechenden Abend, zur Arbeit gebracht.

Wir hatten keine Wahl und bauten unser kleines Zelt auf der gepflegten Rasenfläche im Zentrum auf, umringt von den stummen, weißen, unbeweglichen Riesen, die alle einen Namen trugen. Nicht, wie man vielleicht denken könnte „Tramp“; „Adventurer“, „Vagabond“ oder ähnliche Namen für das Unterwegs-Sein. Die Schriftzüge auf den Blechkisten hatten etwas martialisches, Kriegerisches: Emperor, Invader, Explorer, Challenger.

Bald waren die Luftmatrazen aufgeblasen, Tisch und Stühle auf einer kleinen Betonplatte neben dem Zelt aufgestellt, und wir machten uns an die Zubereitung des Abendessens. Es sollte Mahimahi geben, so wird die Goldmakrele in dieser Gegend genannt, wir hatten ein paar frische Filets unterwegs erstanden.

Wie auf einer Bühne enstand diese Szene, stumm beäugt von den verdunkelten Scheiben der Wohnmobile, wie Augen großer, weiß gepanzerte Raubtiere. Die Neugier der dort drinnen hausenden Menschen konnten wir fast physisch spüren, aber es regte sich nichts.

Der Tisch war schon gedeckt, wir waren mit der Zubereitung eines guten Abendessens mit Fisch, Salat und Brot fast fertig, als ein kleines offenes Elektromobil auf der Bildfläche erschien. Darauf saß ein älterer Mann, offensichtlich so etwas wie ein Campingwart, der schon von weitem rief: „Oh, real Campers!“ und sein Elektrowägelchen in unsere Richtung lenkte.

Bei uns angekommen, stieg er ab, hinkte auf uns zu und strahlte uns an: „Real Campers!“ Das sei inzwischen so selten geworden, man sähe hier eigentlich keine Zelte mehr. Aus seinem zerfurchten Gesicht sprach eine königliche Freude über das kleine Zelt, das Essen auf dem Tisch unter freiem Himmel und die beiden Männer, die sich hier, im Zentrum der Totalversorgung, diesem lächerlichen Rest eines Abenteuers ausgesetzt hatten.

Wir kamen ins Plaudern und er erzählte von seiner Verwundung im Vietnamkrieg und wie er als behinderter Veteran auf diesem Platz eine Aufgabe gefunden hatte. Dann musste er seine Kontrollfahrt fortsetzen, der Abschied war überschwänglich, er hatte uns in sein Herz geschlossen. Und für uns war er der einzige Mensch, dem wir an diesem verschlossenen Ort begegnen durften. „Good luck!“, sagte er zu seinem kräftigen Händedruck, humpelte zu seinem Elektromobil und surrte davon. Nach zwanzig Metern drehte er sich noch einmal um, winkte uns zu und rief noch einmal : „Good luck!“

Von einer Dämmerung war an diesem Abend nichts zu spüren; die Platzbeleuchtung tauchte alles in ein helles Neonlicht. Die Crusaders und Champions standen in einer Reihe, wie ausgestorben. Der Mahimahi lag gut sichtbar auf unseren Tellern und gegenüber, hinter dem Zaun, wurden immer neue Mickey-Mäuse und Gorillas auf Pick-ups verladen.

 

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