Gipfel und Oasen

2004

 

Auf meiner ersten Reise nach Asien stand ich in Tibet auf einem Pass, ca. 6000 Meter über dem Meer, und schaute auf ein grandioses Panorama: zum Greifen nah gegenüber der Mount Everest, leuchtend weißer Gipfel vor dunkelblauem Himmel, der Sturm wehte den Schnee wie eine kleine vulkanische Rauchfahne über die Kante. Und ringsum die anderen Giganten: der Lo-Tse, der K2, der Nanga Parbat und andere Achttausender, deren Namen ich mir nicht gemerkt habe. Mein weltreisender Freund strahlte (in seinem tiefgebräunten Gesicht die Gletscherbrille wie tote Augen): hier siehst du über die Hälfte aller Achttausender der Welt auf einen Blick!

Ich schaute mich um. Es war großartig, bei selten klarem Wetter auf dieser Höhe zu sein, und der Blick ging unendlich weit ins Blau und an dem weißen Gipfelzickzack entlang, ein absoluter Höhepunkt am andern, ein großer Bergsteigertraum.

Ich bin kein Bergsteiger. Wir waren, von Lhasa her kommend, in einem Landrover unterwegs in Richtung zurück zur nepalesische Grenze. Im Frühjahr 1987 hatte die chinesische Besatzungsmacht für kurze Zeit die Grenze von Nepal nach Tibet für Einzelreisende geöffnet. Kurz danach entstanden Unruhen durch rebellierende Mönche und die Grenzen waren wieder dicht. In der tibetischen Hauptstadt hatten wir uns in drei Wochen allmählich an diese extreme Höhe gewöhnt und konnten auf dreieinhalbtausend Meter Höhe, ohne Luftnot fahrradfahrend, die umliegenden Klöster besuchen, die die chinesischen kulturrevolutionären Brigaden verschont hatten. Daunen-jacken, Gletscherbrillen, Bergstiefel und Diamox gegen die Höhenkrankheit gehörten zu unserer Ausrüstung.

Der chinesische Fahrer des Jeeps, in dem wir eine Mitfahrgelegenheit für diese knapp 1000 km durch das tibetische Hochland gechartert hatten, war ein freundlicher, wortkarger Mensch. Er machte extra für uns einen Abstecher (der uns drei Stunden kostete –  und ihn auch) zu diesem Ort, von dem er wusste, dass er diese „Langnasen“ begeistern würde. Vorbei an großen Yakherden, die auf halb abgetauten Schneefeldern in den steilen Hängen weideten (was gibt es dort noch zu verdauen?), vorbei an letzten tibetanischen Nomadenzelten in viereinhalbtausend Meter Höhe, schwarze Dreiecke in graugrünem Gelände (wie kann man dort leben?) ging es auf der Schotterpiste immer bergauf, immer bergauf. Es wurde karger, steiniger. Auf jeden kleinen Pass aufgeschichtete Steinmännchen zur Abwehr böser Geister und Schnüre mit bunten Gebetsfahnen, vom Wind zerfetzt und ausgebleicht. Der Landrover kroch nach oben ins immer Leerere und Hellere, schüttelte uns durch, und ich fragte mich, woher die Maschine den Sauerstoff nimmt für diese Kraftanstrengung in dieser Höhe.

Irgendwann gab es einen Platz in den steil abfallenden, steinigen Hängen, wo der Wagen abgestellt werden konnte. Wir stiegen aus in eine eisig klare Luft, zogen die Daunenjacken an und setzten die Gletscherbrillen auf. Von hier aus mussten wir noch etwa hundert Höhenmeter zu Fuß ersteigen. Es ging durch lilafarbene Felsbrocken steil bergauf im Geröll, eine grelle Sonne über uns. Schon nach einigen Metern spürten wir die extreme Höhe: nach ein paar Schritten waren wir erschöpft wie nach einem Hundertmeterlauf, wir brauchten immer wieder eine Pause zum Verschnaufen. Ich weiß noch, wie ich bergab ins Tal schaute und dort unten ein aufgescheuchtes Kaninchen sah, ein hakenschlagendes Geheimnis des Lebens, vor dem ich großen Respekt bekam. Sonst war alles absolut still und unbewegt. Nur unser Atem keuchte und die Schritte knirschten, und hin und wieder kollerte ein Stein den Hang hinunter.

Oben dann öffnete sich der Horizont zu dieser grandiosen Weite. Der schweigsame Chinese war mit hinaufgestiegen, in seinem sonnenbebrillten und wetterbraunen Gesicht zeigte sich keine Regung, er machte nur eine kleine ausholende Bewegung mit dem Arm, als wollte er sagen: hier habt ihr sie, die Achttausender.

Mein weltreisender Freund schnaufte noch von der Anstrengung und atmete heftig und gleichzeitig vor Entzücken, wies auf all die berühmten Gipfel, nannte ihre Namen und wartete wohl auf ein ähnliches Entzücken bei mir. Mir aber war es fremd und unheimlich zumute. Noch nie war ich an einem so lebensfernen und lebensfeindlichen Ort gewesen. Ringsum war nur grandiose Weite, tödliche Gipfel, Stein, Eis, Sturm, Luftnot. Wir standen auf etwa sechstausend Meter über dem Meeresspiegel, mein gebildetes Hirn verstand die Begeisterung des Freundes, die innere Vorstellung der Geografie funktionierte, ich kannte Geschichten der Eroberung der Welt bis hin in ihre unzugänglichsten Gebiete, ich erinnerte mich an den Ehrgeiz der großen Entdecker, an ihre Entbehrungen, ihre Leiden, ihren Stolz, ihre Demütigungen. Ich erinnerte mich auch an die vielen Namenlosen, die bei diesen Unternehmungen scheiterten, erfroren, verhungerten, oder auf andere schreckliche Weise zu Tode kamen, und an all die Namenlosen, die für die Entdecker Lasten schleppten, Essen kochten, Wege suchten und mit ihnen den Tod fanden. Und ich dachte an die Tibeter, für die der „Chalamunga“, dieser höchste Berg der Welt (das wussten sie nicht und das war auch nicht wichtig) eine todbringende Göttin war, vielleicht vergleichbar mit der hinduistischen Kali: ein Bild der Vernichtung und Zerstörung des Lebens. Dort wohnt der Tod, er wird geachtet, anerkannt, rituell verehrt und besänftigt – aber niemand geht freiwillig dorthin.

Ich machte Fotos von diesem einmaligen Ort, pflichtbewusst, ein Panomarabild der Großartigkeit und Lebensfeindlichkeit zugleich, und bin auch froh über diese Bilder. Aber ich war fast krank dort oben, leer und traurig, und fragte mich, ob mit mir vielleicht irgendwas nicht in Ordnung ist, dass ich mich über diesen besonderen Augenblick nicht wirklich freuen kann. Dann schaute ich nach unten und sah zu meinen Füßen auf einer violetten Felsplatte Flechten. Sie hatten die Farbe des Steines angenommen, wirkten fast wie strukturierter Staub, wie Verwitterungen des Gesteins. Aber es war Leben, eine symbiotische Lebensform aus Algen und Pilzen in sechstausend Metern Höhe. Ich sah diese Flechten und sie erschienen mir tausendmal kostbarer als das einmalige Panorama: hier, wo der Tod wohnt, ist Leben.

Diese Flechten waren eine Oase. Das wurde mir erst viele Wochen später klar, als ich im Agurot-Tal entlang hinein in die judäische Wüste ging.

 

Wir erreichten Kathmandu auf abenteuerliche Weise und wären fast gestorben, als während des Abstieges aus dem Hochland ein Monsungewitter den Hang wegspülte, auf dem wir unterwegs waren. Etwa tausend Höhenmeter waren auf schmalen Pfaden zwischen dem tibetischen Grenzort Chang-Mu und dem nepalesischen Dorf Kodari im Tal zu überwinden. Der Regen war so heftig, dass man kaum zehn Meter Sicht hatte. Im Pfad am Hang entstanden die ersten Risse, als wir eine kleine Höhle im Fels entdeckten, die vielleicht Schutz bieten könnte. Aber eine Herde Bergziegen hatte schneller als wir verstanden, worum es ging. Tibetische Mantras murmelnd eilten wir auf dem brüchigen Pfad bergab und zögerten noch kurz, als wir an einen frischen Bergrutsch kamen, den es zu überqueren galt: Ist er noch in Bewegung? Im Moment unseres Innehaltens löste sich hundert Meter über uns im ein tonnenschwerer Felsbrocken und rollte fast in Greifweite vor uns vorbei. Hinter uns brach der Pfad weg, und es ging bergauf. Vor uns ein rutschender Hang, und es ging bergab. Wahrscheinlich war das Denken weitgehend ausgeschaltet und wir ließen uns von der Schwerkraft ins Tal ziehen.

Die asphaltierte Straße im Tal war von Felsbrocken übersät, der Wolkenbruch hatte etwas nachgelassen. Die nepalesischen Grenzbeamten in ihrer Bretterhütte glaubten an Gespenster, als wir durchnässt und verdreckt in der Tür standen: Wie kann jemand lebendig durch dieses Unwetter und durch den Bergrutsch und durch den Steinschlag bis hierher geraten? In der Zollhütte zeigten wir unsere durchnässten Pässe, zogen unsere nassen Klamotten aus, bekamen heißen Tee, und erholten uns von dem Überlebensschreck.

 

In der Stadt dann nahm mein Reisebegleiter ein Flugzeug, das ihn zu seiner Familie und seiner Arbeit brachte; ich war nicht gebunden und ohne Ziel und wartete auf den Reisewind. Tibet war sehr fremd gewesen, sehr faszinierend und fremd wie dieser Blick auf den Chalamunga. Ich bekam Sehnsucht nach meinen Wurzeln, die hießen Europa (weil man dort z.B. ohne Bedenken Salat essen kann) und genauer noch: Neugier auf Ägypten, weil in dieser Gegend irgendwann mal angefangen hat, was man heute westliche Zivilisation nennt. Ich nahm also ein Flugzeug nach Athen, dann eine Fähre nach Kreta, aß dort sehr viel Salat am Strand und dachte nach, schrieb mein Tagebuch, erholte mich in der Heimat und fuhr dann über das syrische Meer nach Alexandria, gelangte nach Kairo, bestaunte die Pyramiden, begegnete Echnaton, dem monotheistisch gesegneten Revolutionär, hermaphroditischen Familienvater, gehassten und gestürzten Diktator - vertraute Bilder, fast heimatlich nach der gongstillen Ruhe tibetanischer Klöster, den beunruhigenden Bildern der buddhistischen Dämonenabwehr. Dort war ich dem Blick in lächelnde mongolische Gesichter mit blauschwarzem Haar begegnet, wo die Türkise funkelten und ich mich fragte: Was geht in den Köpfen und Herzen dieser Menschen vor, die in Schafffelle gehüllt auf dem gefrorenen Boden schlafen, bei Morgendämmerung in eisiger Kälte erwachen, Wacholderfeuer entzünden, kilometerweit sich niederwerfen, aufstehen und sich wieder niederwerfen, Bretter an die Hände gebunden, um sich so dem Allerheiligsten zu nähern, dem Buddha-Tempel Yokang in Lhasa, wo seit tausend Jahren ununterbrochen die Lampen mit ranzigem Butterfett genährt werden. Dies alles war mir so fremd wie der Mount Everest, und ich habe erst Jahre später eine Ahnung davon bekommen, um was es bei diesem riesigen, mit Blattgold überzogenen Buddha im Innern des Tempels gehen könnte.

Jetzt aber war ich in Kairo,  bedrohter durch die  muslimische Welt hier als durch die buddhistische dort. Bedroht durch großen Lärm, Geschäftemacherei, eine unangenehme Nähe, finstere und lächelnde Gesichter mit unklaren Hintergedanken, in der Hitze schmelzender Asphalt, überfüllte Busse, kafkaeske Bürokratien. Konkreter bedroht als in der seltsamen Stille des Himalaya war ich doch in dieser Art der Bedrohung zu Hause, konnte mich schützen: dies war die mir vertraute Welt, so fremd sie mir auch war im Vergleich zu meiner schwäbischen Heimatkleinstadt. Die arabisch-muslimische Welt war mir nah im Sinne der Leidenschaft und des Dramas, des Oszillierens der Bedeutungen. Ein Feind war auch ein möglicher Freund - und umgekehrt. Der Parfümhändler, der mich in seinen Laden einlud und mir beim Tee tausend Gerüche zeigte, liebte die Gerüche und liebte das Geld. Ich kaufte ihm einige Fläschchen ab, weil es ihm gelungen war, seine Leidenschaft auf mich zu übertragen -und nicht weil ich diese Gerüche brauchte.

Oder der Kellner im edlen Cafe Groppi am Talaat- Harb-Platz: dort war ich mit einer halbägyptischen Freundin aus Deutschland verabredet, die ein Jahr in der Stadt ihres Vaters verbrachte. Der Kellner bediente mich, den abgerissenen Rucksackreisenden, mit kaum verhohlener Verachtung. Als dann die Freundin, ägyptisch und gut aussehend mit den Insignien des gehobenen Bürgertums, den Raum betrat und wir uns herzlich begrüßten, trat dieser Kellner devot an unseren Tisch, um die Bestellungen entgegenzunehmen. Danach beugte er sich zu ihr hinunter und flüsterte mit ihr. Ihre Antwort war eine laute arabische Tirade und der Mann verzog sich sofort: Er hatte sie gefragt – wegen der herzlichen Begrüßung – ob wir verheiratet seien. Diese Frage hatte sie sich energisch verbeten und ihn aufgefordert, seinen Aufgaben nachzukommen.

Etwa eine Woche erlebte ich Kairo in Begleitung meiner halb-arabischen Freundin, besuchte mit einem Blumenstrauß die ägyptische Großmutter in Heliopolis, eine alte großbürgerliche Dame und merkte einmal mehr, wie anders das Unterwegs-Sein sich gestaltet mit einer vertrauten Einheimischen an der Seite.

 

Der Reisewind führte mich dann den Wurzeln entlang noch näher an die europäische Heimat, nach Phönizien, der Herkunft Europas, dieser Prinzessin, die auf dem Rücken des stiergestaltigen Zeus nach Kreta entführt worden war. Ich durchquerte in einem Bus durch von Kairo nach Tel Aviv die Sinai-Wüste, alles wurde mehrfach intensiv kontrolliert von Menschen in verschiedenen Uniformen, und am Rande der Straße verrostete Panzerwracks, Reste des Sechstagekrieges auf dem Weg nach Israel. In dieser Gegend hatte Echnatons monotheistische Idee sehr grundsätzlich Fuß gefasst und die jüngere Weltgeschichte in Gang gesetzt, alttestamentarisch, christlich und muslimisch.

Dann saß ich auf dem Dach des Hotels „Petra“ am Rande der Jerusalemer Altstadt im goldenen Abendlicht und schaute auf den Felsendom die Grabkirche und, von hier aus in einer Senke, die Klagemauer. Lauter Gipfel, ein ähnliches Panorama wie auf dem Pass in Tibet: auf einen Blick alle Grandiositäten der westlichen Kulturgeschichte - den Petersdom in Rom kann man in diesem Zusammenhang getrost vergessen. Mein weltreisender Freund war zu Hause und ich bin nicht sicher, ob seine Augen ähnlich geleuchtet hätten wie im Angesicht der Achttausender.

Ich war dort allein mit meinem Tomatensalat am Abend in einem durchgesessenen Gartenstuhl auf dem Dach des Hotels „Petra“ und war mitten in der Welt. Alles war sehr nah, aus den Gassen unten klang das Geschrei der Händler, der Felsendom glühte rosarot im späten Licht, es roch nach Abwasser und Knoblauch. Vor diesem kuturgeschichtlichen Gipfelpanorama war ich näher am Leben als dort gegenüber dem „Chalamunga“, und dennoch blühte hier der Tod, der Hass, der Krieg, der Völkermord, der Terror, der tödliche Kampf der Ideologien, Orthodoxien,Fanatismen. Mitten im Leben ein monotheistischer Gott auf der Fahne, ein Dogma im Wappen, ein missionarisches Zeichen auf der Stirn, lauter Kainszeichen des Brudermords. Dieses göttliche Zeichen sollte ja den Brudermörder Kain schützen - aber wie?  Kreuzzügler hatten hier gegen Sarazenen gewütet, tausende Unschuldige waren grausam abgeschlachtet worden, auf der Via Dolorosa floss knöchelhoch das Blut. Spanische Konquistadoren schlachteten die Inkas ab, das osmanische Reich schlachtete die Armenier. In Auschwitz floss kein Blut mehr, ein klinisch organisierter Massenmord. Aber dann wieder in Uganda, in Jugoslawien und überall. Am elften September, den es damals noch nicht gab, nur noch Staub.

Im Angesicht dieser tödlichen Gipfel ringsum gab es keine Flechte, die mir ein Zeichen der Hoffnung sein könnte. Ich sah auf die Reste des Tomatensalats und war mittendrin und es gab keinen Ausweg aus dem Wissen und der Erinnerung. Aber die Dächer Jerusalems waren mir nah. Ich war traurig aber nicht fremd: hier war die Lust und die Schönheit, hier war die Wiege meiner Kultur, hier war der mir vertraute Schrecken, hier verband mich die Erinnerung an eine mörderische Geschichte mit mir selbst, hier schaute ich über einen überschaubaren Horizont. Und dieser Horizont hieß: es ist genug da für alle. In diesem Horizont könnte man heiter leben, wenn es keine Besserwisser gäbe, die keinen Zweifel haben und für dieses sogenannte bessere Wissen bereit sind, über Leichen zugehen.

Ein paar Tage später  war ich in die Beduinenstadt Beer-Sheva geraten, mitten in der Sinai-Wüste, wanderte durch die bunten Gerüche dieser Märkte und freundete mich mit holländischen Jungens an auf der Suche nach einem Schlafplatz in der Stadt. Wir fanden ihn schließlich in einem Park, der im Abendlicht noch als Kulisse für frisch verheiratete Paare und ihre Posen für das Hochzeitsvideo diente. Mit Einbruch der Dämmerung jedoch entpuppte sich dieser Park als Schwulentreffpunkt: den Reißverschluß des Schlafsacks bis zum Kinn hochgezogen lagen wir am Rande der Büsche, von begehrlichen Blicken und Worten verfolgt und konnten unsere Angst nur mit schnodderigen Bemerkungen verbergen.

Am Tag danach traf ich in einem Busbahnhof eine Frau, die auf eine ähnliche Weise wie ich unterwegs war. Sie hatte sehr andere Ziele und erzählte von ihrem nächsten: die Oase En-gedi am Toten Meer. Die Frau gefiel mir und ich wollte sie gern wiedersehen. Deswegen verabredete ich mich ganz unverbindlich mit ihr in En-gedi –  irgendwann in den nächsten Tagen, sie wollte dort für längere Zeit bleiben.

Auch dieser Ort war wie so viele nicht in meinen Plänen oder Absichten aufgetaucht, er kam auf mich zu. Ich saß in der Abenddämmerung – es war immer noch unerträglich heiß – am schlickigen Ufer und schaute auf diese ölig-silbrige Fläche, die sich träge bewegte und im wechselnden Licht der untergehenden Sonne vom Silbernen ins Rosa geriet und dann ins Bläulich- Graue und allmählich immer dunkler wurde. Über die Silhouette der Berge Jordaniens am andren Ufer kam  die Nacht und mir wurde klar, dass ich nun am tiefsten Punkt der Erdoberfläche angegekommen war. Der Mount Everest kam mir in den Sinn, und wie sehr auch hier das Besondere, das Grandiose herrscht: Es war heiß, zweihundert Meter unter dem Meeresspiegel, eine mörderische Hitze, das quecksilbrig träge Wasser vor mir versprach keine Erfrischung, es war ein extrem fremdes, giftiges  Element. Es brannte in Wunden und Schleimhäuten, der Auftrieb durch den Salzgehalt war gewaltig, jede Bewegung musste kontrolliert werden, damit der Kopf nicht unter Wasser geriet. In diesem Wasser gab es kein Leben, keine Algen, keinen Fisch, aber immerhin den ölig-salzig-schwarzen Schlick am Ufer, heilsam für die Haut- und Rheumakranken, die in den wohlklimatisierten Hotels ringsum nach Genesung suchen. Mit diesem schwarzen Schlamm schmierten wir uns gegenseitig ein und lachten und freuten uns, weil wir so gesund waren.

 

En-gedi gilt als Oase am Toten Meer, weil dort ein Süßwasserrinnsal  aus der judäischen Wüste in dieses tödliche Meer fließt. Man hat es genutzt, ein paar Palmen und Tamarisken spenden spärlichen Schatten für die Touristen auf dem Campingplatz. Menschliche Erfindungskraft trotzt mit hoher Technologie der glühenden Hitze ein paar Felder ab. Nicht weit von hier steht die alte Festung Massada hoch über diesem Meer, das keines ist, denn aus dem Meer kam doch das Leben und hier endet das Leben. Und auch Massada ist ein Symbol des Todes: Hier hat sich eine ganze menschliche Gemeinschaft in den kollektiven Selbstmord gestürzt, um sich den ringsum belagernden Feinden nicht zu ergeben. Diese Tat wird mythologisch verklärt, der Tod für eine eigene Idee ist immer besser als das Leben unter einer fremden. Und immer noch finden in den Ruinen dieser alten Festung Rekrutenvereidigungen der israelischen Armee statt, es gibt keinen besseren, keinen tödlicheren Ort als diesen für den Fahneneid.

 

Woher kommt dieses Bächlein lebensspendenden Wassers in dieser feindlichen Gegend, das tote Meer vor uns, die judäische Wüste hinter uns? Meine Reisegefährtin und ich wurden neugierig auf diese Quelle und suchten das Agurot-Tal, in dem das Wasser aus der Wüste kommt. Wir liefen durch die Plantagen, durch Dattelpalmenhaine, durch domestiziertes Land und kamen allmählich ins offene, wildere. Hier war das Bachbett und links und rechts davon ging es steinig steil nach oben, von dort grüßten uns Steinböcke, kurz gesehen und schon verschwunden. Wir gingen barfuß im Wasser, kamen nur langsam voran. Vor mir watete meine Begleiterin durch den Bach, sie hatte nur einen Bikini an und ich sah ihren schönen braungebrannten Körper vor mir, die Anmut der Bewegungen, ihr Lächeln beim Zurückblicken, das lange Haar, das ihr über die Schultern fiel. Das Tal wurde enger und enger, oben über den Felsen glühte die Wüste, aber hier unten war es erträglich – und mehr als das: kleine Bäume neigten sich über das Wasser, Vögel zwitscherten im Schatten der Zweige, Moose und Algen wuchsen auf den großen Steinen im Bachbett und am Ufer. Das helle Sonnenlicht spielte mit den Schatten, wir gingen bergauf im Wasser und waren geborgen in einer kleinen Zone des Lebens. Zehn Schritte nach links oder rechts brannte eine unerbittliche Wüstensonne, gab es nichts mehr als roten Fels, Sand und Staub. Aber hier, auf dem Grunde dieses Schlucht, war wechselnder Schatten, strömte das Wasser, sprudelte, gluckerte und ließ weiches und hartes Grün wachsen, Moose, Gräser, Blumen, Büsche, Bäume. Wir gingen durch dieses Lebendige weiter einer Quelle entgegen, und immer wieder blickte ich nach oben, sah diese roten Felswände vor dem tiefbauen Himmel und ahnte, wie dort oben die Sonne glüht, die Luft in der Hitze flimmert und die Wüste sich gelblich-grau bis zum Horizont erstreckt.

So gingen wir stundenlang durch diese schmale Zone des Lebens mitten in der tödlichen Einöde ringsum und gelangten schließlich an einen kleinen See: das Wasser stürzte von oben, aus diesem Hellen und Gefährlichen, über die rote Felsenkante nach unten, vielleicht zwanzig Meter tief hinunter zu uns. Der kühle See reichte mir bis zur Brust, der Wasserfall rauschte und ich konnte das alles kaum glauben.

Am liebsten hätte ich jetzt auch ein paar Namen genannt wie mein begeisterter weltreisender Freund vor ein paar Wochen auf dem Pass gegenüber dem Mount Everest. Aber es gab keine Namen und keine Gipfel, nur diesen kleinen Wasserfall mitten in der judäischen Wüste, der unbeirrt hinabfiel und das ganze enge Tal befruchtete, das wir durchwandert hatten. Meine Gefährtin und ich standen stumm im Wasser, wir staunten beide sprachlos und ich habe keine Ahnung, was sie bewegte. Aber ich wusste nach all dem, was ich gesehen und erlebt hatte, dass hier der Höhepunkt meiner Reise war: ein Wasserfall in der Wüste, von keiner Sehnsucht zerstört, von keinem Hinweisschild, keinem Dogma missbraucht, eine pure Überraschung des Lebendigen mitten im Tod, neben einer Frau, die mir fremd und nah zugleich war.


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