Sekretär und Dealer

2017

 

Nach einigen Wochen in Tibet war ich Mitte der 1980er Jahre nach Kathmandu zurückgekehrt und hatte einen Zwischenaufenthalt in Kreta anvisiert, eine kurze europäische Pause, bevor es weiter nach Ägypten und Israel gehen sollte. Einen günstigen Flug nach Athen hatte ich bei der Bangladesh-Airline gefunden, der einen ersten Zwischenaufenthalt mit Übernachtung in der Hauptstadt Dhaka vorsah.

Am Abend vor dem Abflug fand auf dem Dach meiner Lodge in Kathmandu eine Party für die dort logierenden Traveller statt, mit indischer Livemusik, einem Buffet und viel Schnaps. Es war meine Abschiedsnacht von vielen Wochen in Nepal und Tibet, in tropischer Schwüle und dem ausgelassenen Feiern der zumeist jungen Reisenden. Die ganze Zeit hatte ich, durch Erfahrung klug geworden, mit eiserner Disziplin die Regel befolgt: nichts Rohes, was nicht geschält werden muss, kein offenes Wasser. An diesem Abend erlag ich aber, vielleicht durch den Alkohol in meiner Strenge geschwächt, der Versuchung und probierte ein Tellerchen mit angemachten Gurken und Tomaten: es mussten ja nicht überall Krankheiten lauern!

Diese Unvorsichtigkeit habe ich bitter bezahlt. Schon als ich am nächsten Morgen im Flieger nach Dhaka saß, rumorte es in meinem Bauch, entfuhren mir schweflig riechende Rülpser, ich fühlte mich elend und wusste: zum Abschied hatte ich mir doch noch einmal den „Delhi-Belly“ eingefangen. Vor mir lag eine lange Flugreise in unbekannte Gegenden, ich war allein – was sollte daraus werden?

Vom zunehmenden Krankheitsgefühl und diesen Ängsten gezeichnet hing ich in meinem Sitz und erinnere mich noch, wie kurz über Dhaka das Flugzeug in eine Art Sturzflug überging und mein Vertrauen in die technischen wie fliegerischen Fähigkeiten der Air Bangladesh genauso rapide wie der Flieger sank. Wir landeten aber wohlbehalten und irgendwie habe ich es samt Rucksack in den Shuttle geschafft, der uns in das Hotel brachte.

Dort war ein üppiges Buffet aufgebaut, die Dämmerung war hereingebrochen und im zur Zeit herrschenden Ramadan durfte gegessen werden. Viele muslimische Männer saßen in ihren Kaftans und mit weißen, gehäkelten Mützen an langen Tischen, in festlicher Stimmung, und langten zu. Mir aber war jeder Appetit vergangen, ich war froh über ein Bett, eine Dusche, eine Toilette in der Nähe und den Ventilator, der einen leisen Windhauch in die Schwüle schaufelte. Dort lag ich in der Nacht auf den Laken, schwitzend, voller Übelkeit und Bauchweh, hörte die Männer aus dem Speisesaal und das Tosen der Riesenstadt, muss wohl auch eingeschlafen sein – und am nächsten Morgen war alles wie ein Spuk verschwunden: der „Delhi-Belly“, die Männer im Speisesaal, die schwüle Hitze der Nacht.

Am nächsten Morgen sollte mich der Flieger der Bangladesh-Airlines nach Athen bringen, mit einem Zwischenaufenthalt in Dubai. Im Flugzeug war ich fast der einzige westliche Passagier, die Sitzreihen waren gefüllt mit einheimischen, eher jüngeren Männern, zumeist einfach bis ärmlich gekleidet. Erst später verstand ich, dass dies eine Versammlung von billigen Arbeitskräften war, die versuchten, auf den Baustellen von Dubai ihre Not und die ihrer Familien zu lindern.

Etwa eine Stunde vor der Landung in Dubai mussten für Einreisende sogenannte „Immigration-Papers“ ausgefüllt werden, zweiseitige DinA4-Bögen mit vielen Angaben zur Person, zur Identität, zum Zweck der Einreise. Es stellte sich heraus, dass der größte Teil dieser Männer Analphabeten war, und eine Stewardess fragte mich, ob ich bei der Ausfüllung der Formulare behilflich sein könne. Mein Sitzplatz war ganz hinten im Flugzeug, bald hatte sich im Mittelgang eine lange Schlange gebildet, jeder wartete geduldig, bis er an der Reihe war. Unversehens war ich in die Rolle eines Einreisehelfers geraten und kam mir vor wie ein Beamter des saudi-arabischen „Immigration-Office“, allerdings im Bemühen und in der Hoffnung, ein Willkommen und Unterstützung auszustrahlen, soweit mir das möglich war.

Ich schaute in hagere, manchmal zerfurchte Gesichter, die mich mit scheuer Freundlichkeit anlächelten, in denen aber auch Angst und Trauer wohnten. Von viel Arbeit geprägte Hände reichten mir zerknitterte Pässe, in denen ich oft mit radebrechendem Nachfragen Namen und Adressen, Nummern und Daten entzifferte und in die Einwanderungspapiere übertrug. Unter „Beruf“ war dort oft nur ein Strich zu sehen, manchmal ein „Carpenter“, in den meisten Fällen hieß es „Sheperd“. Es waren also Hirten vom ärmlichen Land in Bangladesh, die dort wohl eher Ziegen als Kühe gehütet haben und die nun ihr Glück im Lärm und der Schwerarbeit in dieser expandierenden arabischen Metropole suchten. Bis zur Landung war ich beschäftigt mit dem Ausfüllen der Formulare, ein Gesicht nach dem anderen, ein verlegenes Dankeschön nach dem anderen, oft sprachlos, nur mit einem Händedruck.

In Dubai leerte sich die Maschine, nur ein paar arabische, gut gekleidete Geschäftsleute bestiegen sie dort, bevor sie wieder startete: Die Zwischenlandung diente in erster Linie dem Nachschub billiger Arbeitskräfte aus einem der ärmsten Länder der Welt in eines der reichsten. Und erst auf dem ruhigen Flug nach Athen, in einem fast leeren Flieger, kamen mir die Fragen. Wie war diese Anwerbung zustandegekommen? Was war diesen Männern versprochen worden? Unter welchen Bedingungen mussten sie in Dubai arbeiten und leben? Welche bitteren Enttäuschungen warteten auf sie? Wie fremd werden sie sich dort fühlen? Und wann und ob sie ihre Heimat und ihre Familien wiedersehen würden?

In Athen wurde ich gleich hinter dem Gate von der Drogenfahndung in Empfang genommen und zu Verhör und Untersuchung in ein Büro geführt. Dass mein Rucksack nicht auf dem Kofferband erschien und nach London weitergeflogen war, erfuhr ich erst später: den hätten die martialisch auftretenden griechischen Polizisten also nicht durchsuchen können. Keine Frage, ich war verdächtig: ein nach inzwischen achtwöchigem Unterwegs-Sein nicht mehr ganz taufrischer Rucksacktraveller, mit halblangem Haar und unrasiert, als einziger westlicher Reisender aus einem Flugzeug steigend, das aus Kathmandu kam – solch ein Subjekt musste genauer in Augenschein genommen werden.

Viele Litzen und Sternchen glitzerten auf Schulterklappen und Revers, schwarze Schnurrbärte hingen grimmig herab, in schlechtem Englisch und der Attitude der Macht wurde ich in diesem etwas schmuddeligen Raum ausgefragt, die Neonröhren flackerten: From where you come? Whats your name? What are you doing in Athens? usw. Als die Frage nach meinem Beruf kam, wollte ich die Herren etwas besänftigen und antwortete auf Griechisch, in ihrer Sprache, deren klassische Form ich auf der Schule und die jetzige Form bei einigen Aufenthalten in Griechenland etwas gelernt hatte: Ime Iatròs, sagte ich also, ich bin Arzt.

Augenblicklich war die ganze Atmosphäre völlig verändert. Niemand wollte, angesichts meines heruntergekommenen Aussehens, einen Beweis für diese Behauptung haben. Der Autorität des Staates war eine andere Autorität entgegengestellt worden. Ein Kugelschreiber war mir vom Tisch gerollt, einer der Offiziere bückte sich und reichte ihn mir. Die Uniformen lächelten mich an, der auch nur entfernteste Verdacht des Drogendealens war vom Tisch und wurde nicht mehr erwähnt. Man hatte sich gegenüber einem Arzt im Ton vergriffen und versuchte nun, alles wieder wettzumachen mit freundlichem Interesse am bisherigen Verlauf meiner Reise, an meinem Befinden, wo ich Griechisch gelernt hätte, ob es mir in Griechenland gefalle, was das nächste Ziel meiner Reise sei. Ein paar Minuten verbrachte ich noch im Geplauder mit den nun lächelnden Schnurrbärten, dann wurde ich verabschiedet und einer der Herren geleitete mich zurück zum Gate.

Auf die Rückkehr meines Rucksackes aus London musste ich drei Tage warten und vertrieb mir die Zeit in der schwülen, staubigen und lauten Stadt. Untergekommen war ich in einem Stockbett der städtischen Jugendherberge, im Zimmer zusammen mit acht anderen schnarchenden und stinkenden Gästen. Mitten in der Nacht ging das Neonlicht an und eine Gruppe Sanitäter stürmte ins Zimmer, sie trugen auf einer Trage einen leblos wirkenden Körper hinaus, von dem gemunkelt wurde, er habe eine Überdosis von Drogen in sich. Ich dachte an die Kollegen von der Drogenfahndung am Flughafen und ihren undankbaren, notwendigen Job und war froh, als ich am dritten Abend samt Rucksack in Piräus die lang ersehnte Fähre nach Heraklion besteigen konnte.