Pradakshina

Dieter Koller © 2010

Auszug aus dem Buch: „Ohne Pläne – Reisebericht  aus Südindien“

 

Der Begriff „Pradakshina“ (Sanskrit: dakṣiṇa = „tüchtig, geschickt; rechts befindlich; rechtschaffen) bezeichnet die in Indien und angrenzenden Ländern seit Jahrtausenden praktizierte rituelle Umschreitung eines Heiligtums (Baum, Lingam-Stein, Stupa, Kultbild, Tempel, Berg, See etc.). Die Pradakshina ist ein wesentliches Element der buddhistischen Religionsausübung, aber auch Hindus und – in geringerem Maße – auch die Jains praktizieren diese Form der Verehrung oder Ehrerweisung. (Nach: Wikipedia)

 

Meine Schmerzen beim Sitzen hatten zugenommen, auch im Liegen spürte ich inzwischen das Problem; kalte Duschen hatten nur vorübergehend Linderung gebracht, von der schwülen Hitze wurde alles rasch wieder in Gang gesetzt. Ich bekam Sehnsucht nach dem Meer, nach langen Aufenthalten im salzigen, kühlen Wasser. Der Ozean bei Madras war etwa drei Zugstunden entfernt, ganz in der Nähe lag Pondycherry, eine kleine Stadt, die früher unter französischer Verwaltung stand. Dort hatte Aurobindo gelebt, ein in England erzogener und augebildeter Spößling aus gutem Hause, der dann als Rebell in der indischen Unabhängigkeitsbewegung lange inhaftiert war und in den Gefängnisjahren mit seinem großen Werk begonnen hatte, westliches und östliches Gedankengut zu einer Synthese zu bringen. In Pondycherry lag sein Ashram und Grab, ganz in der Nähe „Auroville“, eine utopische Siedlung seiner Anhänger. Nachdem ich nun mit dem englischen, dem portugiesischen, dem holländischen und dem jüdischen Indien in Berührung gekommen war, interessierte mich auch der hinduistische Weg, die französischen Einflüsse zu integrieren. Vielleicht konnte ich ja von hier aus einen längeren Ausflug in die Gegend von Pondycherry machen und beim ausgiebigen Baden im Meer mein Leiden lindern.

Zunächst aber half nichts als Bewegung, im Gehen fühlte ich mich am wohlsten. Trotzdem hatte ich großen Respekt vor der Umwanderung des Berges; es waren immerhin etwa fünfzehn Kilometer, und in welche Tageszeit ich die Wanderung auch legen würde, ich musste mit sengender Sonne oder schwüler Hitze rechnen.

Auf dem Titelblatt der Broschüre aus dem Seshadri-Ashram war der Berg aus genau der Perspektive abgebildet, aus der ich ihn zuletzt skizziert hatte, von Norden. Sie enthielt auch einige wichtige Hinweise für die Pilger spiritueller Art, von denen ich viele nicht verstand. Aber mir wurde klar, dass der Berg barfuß umrundet sein wollte: der Arunachala ist nicht wie der Kailash in Tibet oder andere Berge ein Wohnsitz des Gottes Shiva, sondern gilt als der Gott selbst, als eine seiner Inkarnationen. (Übrigens ist er auch eine der ältesten geologischen Formationen Indiens.) Die Ehrerbietung verlangt, dass man sich ihm nur barfuß nähert. Man wage es deshalb auch nicht, Steine vom Berg zu nehmen als „Souvenir“. Außerdem dürfe man unterwegs keine Pause machen und keine Kopfbedeckung tragen, keine Decke mitnehmen und keine Waffen dabei haben. Vorher soll man die Stirn mit Vibhuti zeichnen, die Umkreisung muss mit einer Puja im großen Shiva-Tempel in der Stadt beginnen, genauer: Am Osttor des Tempels. Vor der Pradakshina steht eine gründliche Körperreinigung, hinterher soll man nicht duschen.

All diese rituellen Vorschriften bedeuteten eine erhebliche Erschwerung meines Vorhabens: Ohne Kopfbedeckung und ohne Pause in dieser Hitze, und ohne Schuhe auf der heißen Straße! Und ohne eine erfrischende Dusche hinterher –  die Vorschriften kamen mir vor wie eine Prüfung, ob ich es wirklich ernst meinte. Bei Einhaltung der Regeln wurde aber auch Shivas Schutz und Gnade versprochen: In all den Jahren und Jahrhunderten ist der Überlieferung nach keinem Pilger unterwegs um den Berg etwas passiert, kein Unfall, keine Krankheit und auch kein Schlangenbiss, Gefährdungen, die den Bewohnern rings um den Berg immer wieder zustoßen. Vertrauen und Zuversicht waren also wieder angesagt, und ich hatte beschlossen, die Pradakshina nach den mir verständlichen Vorschriften an einem Mittwoch Nachmittag zu beginnen: Ich wollte lieber in der nachlassenden Hitze des Tages beginnen und bei Einbruch der Dunkelheit zurück sein, als in die Hitze hineinzulaufen. Erst nach dieser Entscheidung fand ich in der Broschüre einen Abschnitt, in dem für jeden Wochentag ein eigener, spezieller Segen beschrieben wurde, der dann über der Pradakshina lag. Sonntags „Shivas Blessing“, montags das Gesetz der Welt, dienstags gegen Armut und Krankheit, und mittwochs, ich traute meinen Augen kaum, „One would become an expert in owns choosed division of arts.“ Ich hatte kurz das Gefühl, als ob mir Swamiji, Ammachi oder der Arunachala zugezwinkert hätten.

Am Tag der Wanderung ruhte ich vormittags lang und bereitete mich dann vor; am späten Vormittag zogen einzelne Wolken über den stahlblauen Himmel, gegen Mittag lag eine dünne graue Wolkenschicht über der Gegend, Shiva meinte es gut mit mir. Am frühen Nachmittag radelte ich in weisser Kleidung zum Shiva-Tempel im Zentrum der Stadt an der Ostflanke des Berges, in der Umhängetasche nur eine Flasche Wasser und ein größerer Geldschein. Unterwegs fiel mir ein, dass ich sogar ein Schweisstuch vergessen hatte und das Päckchen Vibhuti, das ich noch aus Mysore hatte; aber ich war schon unterwegs, und so sollte es sein.

Rings um den Tempel war viel Betrieb, Scharen von Pilgern, Händlern, Bettlern suchten hier ihr sehr unterschiedliches Glück. Durch die Erfahrungen am Chamundi-Hill aufgeweckt, kaufte ich Opfergaben, zwei Kokosnüsse, Bananen, Blumen, und betrat damit den weitläufigen Tempelbezirk, war aber unsicher, wie und wo ich diese Opfergaben unterbringen bzw. die erforderliche Puja stattfinden sollte. Die Sandalen waren schon beim Betreten des Tempelbezirks in meiner Umhängetasche verschwunden. Während ich mich noch suchend umschaute im Gewimmel der Menschen, winkte mir ein junger Priester zu und bedeutete mir, ihm zu folgen. Spontan wäre ich wohl in den ersten größeren Tempel dort gegangen, der Supramanya, Shivas Sohn, geweiht war. Aber der Priester deutete auf meine beiden Kokosnüsse, diese Zweiheit in meinen Händen, und sagte: „Shiva and Parvati“ – es ging um das göttliche Paar.

Er führte mich zu einem Ganesh-Tempel, wo gerade eine Puja zelebriert wurde. Der Priester dort legte mir während der Zeremonie mit dem Finger einen Strich aus Vibhuti auf die Stirn; dann ging es unter dem Geleit des jungen Brahmanen zum Shiva-Haupttempel, vorbei an einem weiten Bassin und an kleineren Tempeln und Gebäuden. Die ganze Anlage war voller Menschen, Pilger und Familien, die dort gingen, saßen, schliefen oder meditierten. Mittendrin stand ein Elefant, mit den drei Querstreifen der Shiva-Anhänger auf der Stirn, stand wohl schon seit Stunden da und trat von einem Fuß auf den anderen.

Die Eingangstür des Haupttempels war noch verschlossen, viele Menschen warteten dort mit ihren Opfergaben. Der Priester winkte mich vor, an der Schlange der Wartenden vorbei bis dicht vor die Tür. Damit fühlte ich mich nicht wohl, es gab keinen ausreichenden Grund für dieses Privileg und meine weiße Langnasigkeit war weiß Gott keine Begründung. Aber ich hatte ähnliche Bevorzugung von Westlern schon in Mysore und in Amritapuri erlebt, und wollte auch dem Wink meines Führers nicht widersprechen: Er war hier zu Hause und kannte sich aus in den unausgesprochenen Reglements. Es regte sich auch in der ganzen Warteschlange kein Unmut, eher im Gegenteil, man lächelte mich freundlich und ermunternd an. Der Brahmane hieß mich hier warten und verabschiedete sich.

Nach nur wenigen Minuten wurde die Tür geöffnet, und ich wurde wieder geführt, diesmal von einem Tempelwärter, tief hinein zum Allerheiligsten, sanctum sanctuorum. Die Erinnerungen an den Chamundi-Hill stiegen in mir auf; viele hundert Kilometer war dieser Ort entfernt, aber alle Aspekte der Erfahrung hatten diesselbe Gestalt. Was dort auf dem Hügel in einem kleinen Tempel und seiner Enge geschah, wiederholte sich hier in weiten, hohen Räumen. Eine tiefe Dunkelheit und Kühle herrschte zwischen den Pfeilern und Säulen, ich kam mir vor wie in einer überdimensionierten Krypta, weit unter der Erde. Treppen führten nach oben und unten ins Dunkel, sie waren mit verziertem Messingblech ausgeschlagen, auf dem das Licht der Fackeln glitzerte.

Im engen Vorraum zum Allerheiligsten drängten sich die Menschen, die Luft war stickig und vom Rauch der Fackeln, Öllampen und des Räucherwerks erfüllt. Mein Begleiter verabschiedete sich ohne ein Wort und übergab mich an den Priester am Altar, der mich an das Gitter winkte, das den zeremoniellen Ort vor der Menge schütze. Er legte meine Opfergaben und ein Öllicht auf ein Tablett, schüttete mir geweihtes Wasser in die Hand und bedeutete mir, damit meine Hände zu waschen und diese dann auf die Opfergaben zu legen. Während ich dies tat, murmelte er Litaneien auf Sanskrit und fragte dann nach meinem Namen.

Kaum dass er diesen erfahren hatte, kam als nächste Frage, in völliger Selbstverständlichkeit, nach dem Namen meiner Frau. Ich war nicht verheiratet, aber ohne zu zögern sagte ich den Namen der Frau in der Schweiz, mit der ich mich damals verbunden fühlte. Den Namen meines Sohnes wollte er auch wissen  (nicht den Namen einer Tochter) –  ich musste passen. Der Priester quittierte dieses „Geständnis“ der Kinderlosigkeit, für die meisten Hindus ein großer Makel, ohne besondere Regung und vollzog das Ritual.

Die Kokosnüsse wurden auf dem Opferstein zerschlagen, deren Milch floss in einen Eimer. Dann verschwand der Priester kurz im Allerheiligsten, kam zurück und drückte mir mit dem Finger einen roten Punkt  auf die untere Mitte der Stirn, wo entlang der Chakrenlehre das „Dritte Auge“ sitzt, darüber noch ein grauer Strich aus heiliger Asche. Ich bedankte mich und dachte, nun sei es vorbei. Aber er winkte mich weiter, zum Altar der Parvati. Dieser Nebenraum musste erst aufgeschlossen werden,  der Schlüssel wurde geholt und in einem mächtigen Schloss gedreht. Dort geschah dieselbe Zeremonie noch einmal, wieder mit Waschung, Namensnennungen und ritueller Textrezitation, der Priester trug die ganze Zeit das Tablett mit den Opfergaben und dem flackernden Öllicht durch die dämmrige Dunkelheit zwischen rußgeschwärzten Mauern. Während dieser „function“ (Dieses öde Wort  hat das indische Englisch für die Zeremonien parat) war ich von dem Geschehen so eingenommen, dass ich kaum einen Blick für das Tempelinnere hatte.

Danach setzte sich der Bramahne auf einen freien Platz, winkte mich zu sich, versuchte mir irgendetwas zu sagen. Er sprach nur ein paar Brocken Englisch, ich verstand nicht, was er meinte. Ich erhielt meine geweihten Opfergaben zurück, in den Kokosnüssen lag rotes Kurkumapuder und einige (essbare?) Blätter, auch andere Blättchen wurden mir gereicht und ein Papiertütchen mit Vibhuti, darauf ein Bild: Shiva und Parvati vor dem Arunachala, auf dessen Gipfel ein Feuer loderte. „Auf dem Berg brennt das Feuer“, hatte es Hexagramm des I-Ging zu meiner Indienfahrt geheißen. Es war das das allererste Bild meiner Reise, noch ohne jede konkrete Erfahrung und aus einem alten chinesischen Text entstanden, und nun hielt ich das Papiertütchen mit diesem Bild in der Hand: Auf dem Berg brennt das Feuer.

Am Schluss ging es um Materielles, auf das Tablett sollte Geld gelegt werden, ich legte den Geldschein hin, den ich dabei hatte, war das genug? Ein Mann wurde mir vorgestellt, er sei der Sekretär des Tempels und sollte auch 10 Rupien bekommen, aber solch ein Schein war nicht mehr in meiner Hosentasche und man war es zufrieden. Worum ging es hier? Um Inneres, um Äußeres? Mit dem Verhältnis von materiellen und spirituellen Gütern hatte ich noch einige ungelöste Schwierigkeiten. Was war geschehen? Alles hatte sich gefügt wie die Reise zum Arunachala selbst, eine Fortsetzung dieser Geschichte aus der richtigen Zeit und dem richtigen Entschluss; oder wird hier jeder Europäer so behandelt, weil er einfach eine gute Geldquelle ist? Aber vielleicht war auch beides wahr, die eine Wahrheit musste mit der anderen nicht konkurrieren. Auf jeden Fall hatte ich nun, ungeplant, außer dem Wasser auch geweihten Proviant, Prasad, in meiner Umhängetasche, zwei Kokosnüsse und Bananen, als ich etwas verwirrt und dankbar nach über einer Stunde ins Freie trat, in die schwülheiße Luft des frühen Nachmittags.

Barfuß also sollte es losgehen, auch die lange Strecke durch den Lärm und Unrat der Stadt, die Sandalen blieben in der Tasche. Im Geknatter und Gehupe der knapp vorbeifahrenden Motorrikshas, im Geschnatter und Geschrei ringsum, eingehüllt in die Dieselabgase der Autobusse, fast gestreift von den Ochsenkarren, vorbei an Geschäften, Händlern und deren Werbung –  in der ersten halben Stunde fiel es mir schwer, den mind auf die Pradakshina zu richten. Ich lief am Straßenrand im Staub und Müll, den Kopf gesenkt, es war gut, dass ich diese Strecke von meinen Fahrraderkundungen schon kannte, so erschien mir der Weg durch die Stadt kürzer.

In der Nähe des Ramana-Ashrams wurde es ruhiger, hier streifte ich vertraute Gegend. Ich kam wieder vorbei an den Verbrennungsstätten zur Linken, auf der rechten Seite rückte nun der Berg ins Blickfeld, immer wieder sah ich seine sich ständig verändernde Silhouette, graurot unter dem bedeckten Himmel. Es war zwar heiß, aber der Schweiß lief nicht in Strömen, wie ich es zum Beispiel in Old Goa oder Kochi erlebt hatte. Ich hatte mich auf Schlimmeres eingerichtet.

Am Rande des wie immer belebten Sträßchens, das nun aus der Stadt führte, saßen zwei alte Sadhus mit Sammelmuscheln und Klapperinstrumenten, sie wollten nichts von mir und begleiteten mich mit freundlichem Blick. Konnte ein geübtes Auge mir ansehen, dass ich „auf dem Weg“ war? Schon bald brannten mir die wenig verhornten Fußsohlen, kleine Steinchen setzten sich immer wieder im weichen Europäerfleisch fest und bissen bei jedem Schritt; ich musste sie immer wieder abstreifen und wechselte vom Asphalt in den Staub, Sand und Geröll neben der Straße, wo vielleicht aber Dornen warteten. Ich kam wieder vorbei an den acht Lingams, die in alle Haupthimmelsrichtungen wiesen, an vielen Nandis, und alle diese Denkmäler waren mit Blüten und buntem Farbpulver geschmückt; auf dem Dreizack, Shivas Stab, stapelten sich die Opfergaben der Frauen: Armreifen. An manchen dieser Stätten hielt ich kurz an, nicht im Sinne einer Pause, ich wollte sie betrachten.

Der Weg führte nun durch eine milde Landschaft voller zarter Schönheit; laufen ist etwas anderes als Fahrradfahren, die Dinge und die Natur kommen näher, werden genauer, konkreter und sinnlicher, und jeder Blick führte in eine nächste Geschichte, die nicht erzählt werden konnte; in der Stetigkeit und Langsamkeit des Gehens kam ich an Geschichten vorbei, nicht nur an Bildern wie auf der Fahrt. Mir begegneten Ziegen und Ochsen, oft auch streunende Hunde, die mich als Fremden nah beknurrten und verbellten. Ich fühlte mich sicher in einer Art Gottvertrauen, brauchte keinen Notwehrstein in meiner Hand, wäre diesen Meuten bei Nacht aber nicht gern begegnet. Immer wieder drang ein fremdes Gezwitscher an meine Ohren, unbekannte Vögel sangen unbekannte Lieder, und hin und wieder wehte ein süßlich-schwerer wunderbarer Duft vorbei; kam er von den Blüten in meiner Tasche, kam er von Sträuchern, die ich streifte, oder vom Berg? Ich lief und lief, im Takt meiner Schritte erklang der Gesang von Radakrishna, dem Vorsänger im Tempel zu Mysore, „Om namah shivaja“, und auch die Antwort der Menge. Die Füße schmerzten, aber der Schmerz blieb weit weg, an der Peripherie meines Körpers; in mir war es ruhig und friedlich.

Unterwegs dachte ich an alle Menschen, die mir nahe waren, sie liefen mit mir, wir waren gemeinsam unterwegs, ohne Geplauder. Die Wolkendecke hatte sich inzwischen aufgelöst, rechtzeitig, um der späten Sonne Gelegenheit zu geben, den Arunachala zu grüßen. Rechter Hand lag immer der Berg, schillernd mit seinen verschiedenen Gipfeln und Felsformationen, und hüllte sich unter der allmählich sinkenden Sonne in ein vielfältig changierendes Rot, einen Mantel aus Licht und Rötungen aller Art. Linker Hand stand die Sonne tief über dem weiten flachen Land und ließ die Felder leuchten, braun und grau und hell- und dunkelgrün.

An Bettlern kam ich vorbei, hatte aber kein Kleingeld in den Taschen; erst später fiel mir mein Prasad ein, ich brauchte wenig Wegzehrung, und gab ihnen Kokosnussstücke, die sie dann etwas verdutzt in ihren Händen hielten. Auf halbem Weg, im  Nordwesten des Berges, saß ich kurz auf einem Stein, um Wasser zu trinken und eine Banane zu essen. Von einem vorbeifahrenden Ochsenkarren sprang eine Horde Jungen herunter, um von dem Europäer vielleicht etwas abzustauben. Dem ersten gab ich eine halbe Kokosnuss mit dem Hinweis, sie mit den anderen zu teilen. Aber er sprang mit seiner Beute davon, die anderen standen vorwurfsvoll fordernd vor mir, jeder wollte eine halbe Kokosnuss, aber mein Sack war leer bis auf einen Rest, den ich vielleicht selber noch brauchte, auf der zweiten Hälfte des Weges. Ich schickte die Jungens dem ersten hinterher, es gab Geschrei und auch Tränen. Kurz spürte ich den Impuls, mir den ersten nochmal zu schnappen, müssen sie nicht teilen lernen? Aber dann ließ ich den Dingen ihren Lauf, ich war hier nicht unterwegs, um indische Jungens zu erziehen, war nur eine sekundenhafte Randerscheinung in ihrem Leben, das jeder von ihnen selber lernen und meistern musste wie ich das meine ja auch.

Inzwischen ging die Sonne hinter mir als großer blutroter Ball unter; im Berg entstanden immer tiefere, wildere Schatten und ich fragte mich, wie diese Jungens, die Menschen, die hier lebten, in der mühevollen Bewältigung ihres Alltages, in ihrer Armut und ohne Zugang zu einer tieferen Bildung, eine Ahnung bekommen könnten von dem Ort, an dem sie lebten, seiner Bedeutung und seinen Möglichkeiten. Und im weiteren Gehen und weiter sinnierend wuchs in mir der flüchtige Wunsch, hier an der Nordwestflanke des Arunachala ein kleines Häuschen zu haben, in das ich immer wieder zurückkehren könnte. Und im weiteren Gehen fragte ich mich, ob ich eigentlich eine Ahnung davon habe von dem Ort, an dem ich lebe, seiner Bedeutung und seinen Möglichkeiten, und um welche Art der Rückkehr es bei meinem flüchtigen Wunsch wohl geht.

Allmählich wurde die Strapaze spürbar, der Körper meldete sich zu Wort mit einem langsameren, vorsichtigeren Schritt, die Füße schmerzten, die Fußsohlen brannten. Ich sammelte ein paar rötliche Quarzkiesel am Wegesrand, das war der Kompromiss: nicht Steine vom Berg selbst, sondern Steine, die ihm zu Füßen liegen; wie der Sand im Flußbett von Mekkedatu, den die Füße des Meisters berührt hatten und der von seinen Jüngern eingesammelt wurde. Dies war erlaubt, in diesen Bildern, die mir kamen, und die kleinen Steine in meinem Beutel waren wie verdichtete Zeichen meiner Erfahrung auf dieser Pradakshina und sollten einen Weg in meine Heimat finden, Erinnerungen.

Inzwischen war ich an der Nordseite angelangt, die Dämmerung brach herein, der Körper wurde in seinen Grenzen immer spürbarer, und der Versucher kam in Gestalt eines Rikshafahrers vorbei, der meine Schwächeleien und ein Geschäft witterte. Er bot mir an, mich den Rest des Weges in die Stadt zu fahren, „special price“, aber ich lehnte ohne zu zögern ab, aus einer Mischung aus Demut, Disziplin und Ehrgeiz heraus. Allein der Gedanke an die Benutzung eines Fahrzeuges ist ja verboten und war gar keine Frage, ich war willens und im Stande, diese „Reise um die Welt“ aus eigener Kraft und zu Fuß und auch barfuß zu vollenden, komme, was da mag.

Ich lief und lief, immer mechanischer, in die zunehmende Dunkelheit hinein, spürte den Körper kaum noch, aber auch kaum noch den mind; alle Kräfte waren nur noch auf das Erreichen des Zieles gerichtet. Erste Lichter wurden in den Hütten am Weg angezündet, Feuer flackerten am Straßenrand, es roch nach Rauch und Kuhmist. Der Arunachala zu meiner Rechten war hier ein eingipfliger schwarzer Riesenkegel gegen den Nachthimmel; ein Sichelmond hing silbern und halb liegend neben dem Gipfel, die Sterne begannen ihr Geglitzer. In der Ferne zeichnete sich der große Turm des Shiva-Tempels vor dem von der Stadt erhellten Horizont ab: Mein Ziel. Oben auf dem Turm flackerten hunderte von Öllämpchen, wie ein Leuchtturm in einem Meer von Dunkelheit ragte der Tempel über der Stadt, und wie eine Variation der Ursituation im chinesischen I-Ging: Auf dem Berg ist das Feuer.

Die tropische Dämmerung war kurz, trotz der Dunkelheit war es noch früher Abend, eine indische Lieblingszeit: Der Hitze des Tages entronnen, ein paar Stunden Erholung und Vergnügen nach der Arbeit, vor der frühen Nachtruhe. Der nächste Tag begann mit der Morgendämmerung, den kühlsten und produktivsten Stunden des Tages bis zur beginnenden Hitze am späteren Vormittag. In dieser Abendstimmung empfing mich die Stadt, voller Betriebsamkeit, Erleichterung, Lebenslust. Bei meinem Gang durch die Straßen wurde ich kaum angesprochen, merkte man mir meine Reise an? Oder sah man nur eine eher wankende als gehende Langnase, bei der nichts mehr zu holen war? Die Stille meiner Wanderung war vorbei, ich tauchte wieder ein in den Lärm und Verkehr der Stadt und musste höllisch aufpassen, der mechanische Trott war hier gefährlich.

Langsam, unendlich langsam kam der Tempel näher, und endlich war ich da, ging zum Bassin und dankte für die glückliche Rückkehr. Auch an dem Elefanten kam ich wieder vorbei, er stand immer noch da. Während meine Leistung das Gehen gewesen war, hatte dieses gewaltige, schwere Tier gestanden, Stunde um Stunde, das Gewicht vom einen Bein auf das andere verlagernd. Der Shiva-Tempel war offen, ich ging hinein zum Altar, dankte auch dort für Schutz und Begleitung, bekam vom Priester noch einmal Vibhuti und verließ den heiligen Raum dann rasch. Eine kurz Zeit saß ich noch im Hof zwischen den Tempelgebäuden, der von Fackeln und Öllampen erleuchtet war, bei einer Gruppe von eher bäuerlichen Menschen, die unter Anleitung eines Bramahnen das „Om namah shivaja“ sang, eine endlose Litanei, ohne musikalische Form, aber hingebungsvoll.

Dann verließ ich das Tempelgelände, im Flackern der Lichter und über mir der funkelnde Sternenhimmel, trat durch das Osttor der Tempelanlage und hatte damit die Pradakshina vollendet. Einhundertundacht mal dieser Weg: Welche Gleichförmigkeiten und Routinen, welche inneren und äußeren Abenteuer, welche Strapazen und Gewöhnungen waren damit verbunden? Es entstand nur ein kurzer Gedanke daran, dann wollte ich nur noch nach Hause. Sehr erschöpft zog ich mir die Sandalen an, und spürte nur Wohltat und Erleichterung; in diesem Moment kamen mir die Schuhe als die größte zivilisatorische Errungenschaft vor. Ich stieg auf mein Rad und fuhr durch die nächtliche Stadt heimwärts.

Die Familie saß auf der Veranda vorm Haus, als ich vorbeiging zu meiner Hütte im Hintergrund des Gartens. Die Madame sprach mich an und forderte die nächste Vorauszahlung für das Zimmer ein. Traute sie mir nicht, brauchte sie dringend Bargeld?  Im Nachhinein kann ich diese Begrüßung nach meiner Pradakshina als eine sinnvolle Ernüchterung verstehen, aber in diesem Moment kam mir das sehr unpassend. Unwillig ging ich zu meinem Rucksack und brachte ihr das geforderte Geld.

Als ich wieder zurückkam und in das stockdunkle Zimmer trat, glimmerte etwas schwach leuchtend, gegenüber der Tür an der Wand, etwa einen halben Meter über dem Boden. Bei Licht besehen war da nur die Wand, als ich das Licht wieder löschte, begann es wieder ganz schwach zu leuchten. Eine überpüfbare Wahrnehmung, immer wieder, aber an der beleuchteten Wand war nichts zu sehen. Fluoreszierende Elemente in der Wandfarbe? Ein Zeichen für eine geschärfte Wahrnehmung? Dann saß ich vor meinem Häuschen in der Nacht und der Stille, rauchte die lang ersehnte Zigarette, ließ die „Reise um die Welt“ nachklingen; später entzündete ich eine Kerze am Reisealtar und badete meine Füße in Kaliumpermanganat, zur Desinfektion und Gerbung der geschundenen Haut. Ein leises Erschöpfungszittern war in mir, und kaum dass ich lag, fiel ich in einen tiefen traumlosen Schlaf.

Am nächsten Morgen erwachte ich in einen glühenden Tag hinein, trotz des Ventilatorwindes herrschte in meiner Hütte eine brütende Hitze. Der Wettergott hatte gestern an den Reglern gedreht und einen kühleren Tag eingeschoben.  Der ganze Körper schmerzte, ich fühlte mich zerschlagen, steif, kraftlos, fast krank; was musste das für eine Leistung für die alten Männer und Frauen sein, die den Berg in hohem Alter hundertacht mal umkreisen! Ich war ein bisschen traurig und wusste nicht warum.

Mühsam kaufte ich Notwendiges ein, Waschpulver, Zucker, Tomaten. Vor einem Bassin mit Blick auf den Arunachala (das indische Englisch hält für diese gefassten Wasser an Tempeln, die der rituellen Reinigung dienen, nur das Wort tank bereit) wurde mir das Sitzen vergällt durch charmante indische Boys, die mir nur noch zudringlich erschienen, und für die der Berg wohl nur ein Teil ihres Alltags war, der interessante Fremde in die Stadt lockte. Neben dem Bassin lagen frische, stinkende Haufen von menschlichen Exkrementen; es musste hier also Leute geben, die – Shiva hin oder her – im Angesicht des Berges ihre Notdurft verrichteten, neben ein Bassin. Gab es in meiner Heimat dieses Bild, Kothaufen neben einer wenig besuchten Kapelle z.B.? Ich wusste nicht, wie ich diese stinkenden Haufen in Einklang bringen sollte mit der glühenden Hingabe an das Göttliche, die ich in so verschiedenen Formen auf der Reise erlebt hatte.

In meiner Klause gab es dann ein großes Mittagessen, der Höhepunkt meiner Selbstversorgung bislang: Dunkles Brot mit Erdnussbutter, Dosenhartkäse, Knoblauch und frischen Tomaten. Über die Mittagszeit lag ich viel, dösend und schwitzend in der Hitze. Die Hämorrhoiden quälten mich sehr, bei jeder Bewegung. Nach der großen Erfahrung der Pradakshina war ich wieder in der Welt angekommen, und ich erinnerte mich an den Ausspruch eines alten Zen-Meisters im frühen China, eine der vielen Antworten auf die Frage der Mönche „Was ist Buddha?“. Dieser Meister hatte geantwortet: „Offene Weite, nichts von heilig.“

Am späten Nachmittag ging ich wieder zu meinen Studien in die Ashram-Bibliothek; dort standen die Bücher auf zwei Stockwerke verteilt, zum größten Teil auf Tamil oder Englisch, alle Standardwerke zur hinduistischen Philosophie. In einer hinteren Ecke gab es auch eine deutsche Abteilung, hier fand ich den zurückgelassenen Lesestoff deutscher Ashram-Besucher aus den letzten zwanzig Jahren. Edgar-Wallace-Krimis neben makrobiotischen Schriften, Isabel Allende neben Rilke, Yogalehren neben Milan Kundera, Nietzsche neben Allan Watts. Von allen deutschen Autoren war Hermann Hesse am meisten vertreten, und hatte vielleicht als erster vielgelesener Schriftsteller im letzten Jahrhundert das Interesse an den Geheimnissen und Weisheiten der östlichen Kulturen wecken können. Sein Onkel, Richard Wilhelm, hatte die erste Übersetzung des chinesischen Orakelbuches I-Ging geliefert; der junge Hermann war schon als Kind in den Bann der Rätsel einer anderen Kultur geraten, ganz im Gegensatz des nationalistischen Geistes seiner Zeit. Vielleicht war er ein ähnlicher Vermittler zwischen zwei Welten wie Vivekananda, der etwa zeitgleich von seinem Meister Ramakrishna in Kalkutta den Auftrag erhielt, das Denken des Hinduismus in den Westen zu tragen und der als erster Hindu in Amerika Vorträge über die vedischen Traditionen der Weltsicht hielt.

Am Ende dieses Tages nach der Pradakshina wollte ich noch einmal den Blick auf das ganze Bergmassiv finden, aus weiter Entfernung, und radelte südwärts in die Einsamkeit der Felder, auf einen kleinen Hügel zu, der sich wie eine Ableger des Arunachala aus der Ebene erhob. Dort in den Steinen wollte ich nur schauen und still sein in den Abend hinein. Kein Dorf war in Sichtweite, aber innerhalb von Minuten war ich umzingelt von Menschen, hauptsächlich Kindern, die Beachtung wollten von dem Fremden. Allein-sein in Indien? Kaum kalkulierbar, immer ein Geschenk, und vielleicht nur erreichbar mit Reichtum oder äußerster Wachheit.

Auf der Rückfahrt hatte wieder ein Dorn einen Reifen plattgemacht. Während der junge Fahrradverleiher sich in seinem düsteren Schuppen an die Reparatur machte, saß ich am Rande eines Bassins in der Nähe, vor mir im Dunklen der Berg als großer Schatten. Der silberne Sichelmond lag wieder neben dem Gipfel, ein weiter Sternenhimmel funkelte, es roch wieder nach Dung und Rauch, nach Asche und Räucherwerk. Im Dunkel hörte ich ein Plätschern im Wasser, jemand badete in dem Bassin. Dann stieg eine alte Frau aus dem Wasser, nackt; sie hatte dort ihr Abendbad genommen.

Wie eine Rückbindung in das Allerweltlichste erschienen mir die zunehmenden Probleme an der hinteren Körperöffnung. In jeder Stellung hatte ich Schmerzen und auch eine lang hinausgezögerte Behandlung mit Cortisonsalbe war ohne Erfolg geblieben. Würden mich diese Schmerzen und diese Beeinträchtigung bis zum Ende der Reise begleiten? Die Vorstellung von einer Zeit am Meer, vom Baden im salzigen, kühlen Wasser wurde drängender; der Ausflug nach Pondycherry sollte sein, und zwar bald. Es wurde immer heißer, ich verließ kaum noch meine Hütte, lag dort auf dem Bauch, die schmerzloseste Haltung von allen, und las in dem Büchervorrat, den ich mir aus der Bibliothek geholt hatte. Endlich am Ziel meiner Reise, am Fuße des heiligen Berges Arunachala, lag ich mit quälenden – und peinlichen – Beschwerden auf dem Bauch; die Situation hatte auch etwas Komisches, meine erzwungene Schonhaltung glich äußerlich ja der Prostration, der Niederwerfung vor den höchsten Mächten, wie ich es in den Tempeln so oft gesehen hatte.

Die Lektüre von Vivekanandas Schriften half mir, mich zu erinnern: Krankheit, Schmerzen, Ungemach, alles gehört zu Shivas Spiel Lila, alles sind nur Bruchstücke im großen Kaleidoskop, wie auch Glück und Erregung, Reichtum und Sattheit, im göttlichen Spiel Lila dreht sich das Kaleidoskop, die Bruchstücke purzeln durcheinander und leuchten in immer veränderten Mustern. Vivekananda war ein intellektueller Feuerkopf, gründlicher Denker und gründlicher Zweifler; ausgerechnet er wurde der Lieblingsschüler von Ramakrishna, dem „verrückten Heiligen“ von Kalkutta Anfang des letzten Jahrhunderts, Sinnbild für Bakhti, die pure Hingabe an die Göttin Kali. Über diesen hatte ich hier die wunderschöne Biographie von Romain Rolland gelesen, einem nüchternen westlichen Denker, der sich diesem verrückten Heiligen mit Genauigkeit und liebevoller Achtung näherte.

In der Bibliothek lag auch die aktuelle Ausgabe von „India Today“ aus, einer großen Tageszeitung. In ihr präsentierte sich Indien wie ein ganz normales westliches Land, politische Nachrichten und Analysen, ein kultureller Teil, wirtschaftliche Entwicklungen, bunte Werbung für Luxusgüter, schöne Frauen und markante Männer, Fernseher, Motorräder, Lebensversicherungen. Von diesem Teil Indiens hatte ich so gut wie nichts gesehen, gestreift hatte ich diese Welt vielleicht kurz in Mumbay und in Bangalore, war aber mit ihr nicht in Berührung gekommen. War dieses Indien von „India Today“ wirklich das Land, durch das ich so lange gereist war? Durch zum Himmel schreienden Schmutz und Gestank, durch die lebendige Präsenz jahrtausendealter Rituale, durch die verschiedensten Traditionen einer permanenten geistigen Disziplin und Reinigung, durch dieses Land war ich gereist, gezeichnet von Armut und Überlebenskraft, von Elend und einer unglaublichen Vielfalt –  aber nicht durch das Land, das mir in dieser Zeitung entgegenkam, eine indische Variante des „American Way of Life“.

Mit großer Disziplin ging ich trotz aller Schmerzen immer noch zur Morgenpuja in den Ashram; das Sitzen dort war mir nicht mehr möglich, und so lag ich dann auf dem Bauch, die Pilger dort sahen wohl einen Westler in der Gebärde der Niederwerfung. Es war gut, dort zu liegen und im Gemurmel der Priester die pure Gegenwart zu üben. Es war auch eine Übung in Demut vor den mir verordneten Schmerzen, ich konnte nichts anderes mehr tun, und es war gut so und stimmte. Danach rief eine Glocke die Ashrambewohner zum Essen; wie schön es doch sein konnte, in behüteten Verhältnissen zu sein und das Essen serviert zu bekommen. Mit diesem Gedanken saß ich noch kurz bei den Pfauen, bei den Ochsen und bei den streunenden Hunden, die Essensreste von Bananenblättern leckten –  und fuhr dann kurz entschlossen in die Stadt. Ich hatte seit über einer Woche nichts Warmes mehr gegessen und suchte in der Mittagshitze ein Restaurant.

In einem großen „Park-Hotel“ gab es ein sehr indisches Lokal, Töpfe mit verschiedenen Curries standen auf dem Herd, alles war etwas schmuddelig, die Curries wurden auf Bananenblättern serviert. Ich bekam einen vegetarischen Thali-Teller, und obwohl  sich dieses Restaurant nicht durch eine besondere Feinheit der Küche auszeichnete, aß ich mit großem Genuss. So stolz die Inder auch auf ihre Esskultur sind, erlebte ich ringsum eher eine unangenehme Art von Gefräßigkeit; niemand kostete, schmeckte, freute sich am Essen, sondern  im lauten Palaver wurden die Speisen zumeist hastig heruntergeschlungen, in großen Mengen.

Am Abend brach die Dunkelheit rasch herein. Es begann das flackernde Licht aus trüben Glühbirnen, rauchenden Feuern, Karbid- und Petroleumlampen in den Verkaufsständen an der Straße, ein buntes Gefunkel, in dem die dunklen Gesicher leuchteten und die Silhouetten der Hütten und Bäume zitterten, ein Gewirr aus schwärzestem Schatten, hellstem Licht und Dämmerlichtzonen. Lange hatte mich diese tropisch-nächtliche Welt fasziniert, verbunden mit ihren Geräuschen und Gerüchen, ein so anderer, fremderer Abend als in den neonbeleuchteten und gut geregelten Fußgängerzonen meiner Heimat. Nun aber verlor diese Schattenwelt ihren exotischen Reiz, die Faszination des Fremden war auch nur ein Bruchstück im Kaleidoskop von Shivas Spiel, Lila.

Meine Reisezeit ging allmählich zuende, dauernde Schmerzen ließen mir keine Ruhe, in meiner Hütte war der Strom ausgefallen, zeitweise gab es auch kein Wasser mehr, und nach der Pradakshina hatte ich nur noch Ernüchterungen erlebt. Im kosmischen  Kaleidoskop hieß die derzeitige Konstellation „Krise“; was sollte ich noch hier? Ich hatte Heimweh.

In den Nächten nach der Umwanderung des Berges hatte ich immer wieder nach dem  glimmenden Licht in der Wand gesucht. Es war nicht mehr zu finden.

 

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