Tamatave

 

 2016

„Wenn ich einen schwarzen Hut tragen würde, könnte man mich im Dunkeln gar nicht mehr sehen.“ Olivia lachte, wahrscheinlich war dies ihr Standardwitz für ihre weißen Kunden. Sie trug außer dem weißen Hut ein schwarzes T-Shirt und eine schwarze Latzhose, und war ein schwarzes Freudenmädchen in Toamasina, der Hafenstadt im Nordwesten Madagaskars, die auf französisch Tamatave heißt.

Wechselnde Kolonialherrschaften hatte diese Stadt erlebt, erst die Portugiesen, dann die Franzosen, dann die Briten, und wieder die Franzosen. Immer wieder hatten tropische Wirbelstürme die ganze Stadt zerstört, immer wieder wurde sie neu aufgebaut, ein vitales Handelszentrum am einzigen natürlichen Hafen an der Westküste, wo Madagaskar am indischen Ozean über Jahrhunderte Schiffe aus aller Welt empfing und empfängt.

Als ich im Herbst 1989 dort ankam, waren die Straßen staubig, die Straßenränder voller Abfälle, es roch nach Verwesung und Urin.

 

In der Hauptstadt Antanarivo waren wir mit dem Flieger angekommen, mein ärztlicher Kollege und Reisefreund und ich. Wir hatten in einem kleinen Hotel in der Nähe des Flughafens eine erste Unterkunft gefunden: roh gezimmerte Hütten am Ufer eines kleinen Sees, zum ersten Mal eingetaucht in die Gerüche afrikanischer Tropen. Aus kolonialen Zeiten stand in dem „Salon“ noch ein altes Klavier. Das Hotelpersonal erschien neugierig und amüsiert aus allen Ecken, als ich versuchte, dem Instrument ein paar Töne zu entlocken – vergeblich. Die tropische Feuchtigkeit hatte das europäische Holz verzogen, die vergilbte Elfenbeintastatur klemmte, jeder gelingende Anschlag erzeugte eine verstimmte Kakophonie. Das Instrument war nicht mehr zu retten, aber es stand da wie eine unauslöschliche Erinnerung an vergangene Zeiten, ein verzweifelter Versuch, die bürgerliche Kultur Mitteleuropas in abgelegene tropische Gegenden zu transplantieren. Erinnerungen an Werner Herzogs Film „Fitzcarraldo“ wurden wach, Enrico Carusos Tenor muss unbedingt im Dschungel des Amazonas erklingen: welch ungeheure Hybris, welche Ignoranz, welche Egomanie lagen in dieser Epoche der Kolonialiserung. Dieses verdorbene Klavier war wie ein Zeichen für diesen Irrsinn – der sich unbeirrt, aber deutlich subtiler, bis in unsere Zeiten fortsetzt.

Im Duft der tropischen Hölzer, auf sauberen gelben Laken, von Moskitonetzen geschützt, fanden wir einen erholsame Schlaf nach der anstrengenden Anreise. Und erwachten morgens, die Körper übersät von Wanzenstichen, die noch tagelang juckten. Erst einige Tage später hatten wir die Gelegenheit, am Ufer eines Sees unsere ganze Habe, den Inhalt unserer Rucksäcke, für zwei Tage dem Sonnenlicht auszusetzen, um all die Wanzen zu vertreiben, die sich in dieser einen Nacht in den Falten und Nähten unserer Kleidung eingenistet hatten.

 

Von der Hauptstadt aus wollten wir mit dem Zug durch den tropischen Regenwald zur Westküste, bis nach Toamasina gelangen. Einiges galt es noch zu organisieren und zu besorgen, und wir quartierten uns im Hotel „Terminus“ in Bahnhofsnähe ein. Ein Doppelzimmer mit Doppelbett, in dem wir uns nachmittags für ein Nickerchen zur Ruhe legen wollten. Mein Gefährte aber, unruhig, stand wieder auf, lief vor dem Bett auf seltsame Weise im Kreis und fiel dann, zuckend am ganzen Körper, zu Boden. Ein grand mal-Anfall, ich erkannte es sofort, ein generalisierter epileptischer Anfall. Ich versuchte, ihn zu sichern, damit keine Verletzungen entstehen, suchte nach einem Keil für den Mund gegen den Zungenbiss, dachte an die entsprechende Medikation, Zäpfchen oder Spritze, die in unserer Reiseapotheke waren. Aber bevor das Valium zum Einsatz kommen konnte, war der Anfall vorbei. Verwirrt wurde er wach und konnte sich an nichts erinnern: wo bin ich? Er erkannte mich sofort, hatte aber keine Ahnung, wo wir waren und wie wir hierhergekommen waren. Und nun erzählte ich ihm die Geschichte unserer Reise, vom Abflug in Stuttgart an über den Zwischenaufenthalt in Paris, das Croissant und den Café au Lait in einer kleinen Brasserie, die Ankunft in dem verwanzten Hotel mit dem untauglichen Klavier... Diese Geschichte füllte die durch den Anfall entstandene Erinnerungslücke.

Die nun notwendig gewordene medikamentöse Anfallsprophylaxe führte uns durch einige Apotheken Antanarivos. Die üblichen Blutspiegelbestimmungen waren hier nicht möglich, wir mussten uns an der klinischen Symptomatik, der auftretenden Müdigkeit orienteren, um eine angemessene Dosierung zu finden. Nach zwei Tagen Verzögerung bestiegen wir den Zug, der sehr gemächlich, gezogen von einer Diesellok, durch immer weniger bewohnte Gegend und durch immer dichteren Wald, uns allmählich unserem Ziel näherbrachte: Tamatave.

 

Nur wenige Züge am Tag kamen an dem kleinen Bahnhof dort an, einem einstöckigen Gebäude in kolonialer Holzarchitektur. Auf der staubigen Straße davor wartete eine große Versammlung von Riksha-Fahrern auf die seltenen Kunden; ihre einachsigen buntbemalten Holzkarren mit riesigen Holzrädern standen geneigt in einer Reihe, die beiden langen Deichseln wie zur Begrüßung im Straßenstaub. Ein lautes Gedränge begann, mit Geschrei und wildem Gestikulieren, jeder dieser ausgemergelten Gestalten suchte nach stundenlangem Warten in der Hitze nach Kundschaft. Mir war unwohl bei dem Gedanken, mich und meinen Gefährten samt Gepäck von einem dieser dünnen Männer barfuß in die Stadt ziehen zu lassen: wurde hier, in dieser Szene, nicht wieder ein weiße Kolonialherrenattitüde belebt?

Mein Freund aber, des Französischen eher mächtig als ich, hatte weniger Skrupel und war sich schnell mit einem Riksha-Fahrer einig, der uns in ein Hotel Etoile Rouge bringen wollte. (Erst später erfuhr ich von Olivia etwas über die verschworere Gemeinschaft aus Riksha-Fahrern und Freudenmädchen in dieser Stadt und über deren sehr eigenen Stolz, der mit einer europäischen Sicht auf die Verhältnisse wenig zu tun hatte.) Zum Etoile Rouge ging es also, zum „Roten Stern“, und ich saß in der Holzriksha hoch über der vermüllten Straße, vor uns und zwischen den Deichseln ein muskulöser Rücken unter verschlissenem Hemd, die nackten Füße wirbelten auf der heißen Straße im Staub – ein schamvolles Unbehagen blieb, und ich war froh, als wir am Hotel ankamen, einem einfachen zweistöckigen Betonbau in der Nähe des Zentrums.

Als gäbe es eine verborgene Verbindung zwischen Riksha-Fahrern und den Hotels, erwartete und die Wirtin schon am Eingang, eine stämmige Madame in den Dreißigern, mit einem breiten Lächeln. Bon jour et bienvenue, sagte sie, ich habe ein Zimmer für Sie. Das Etoile Rouge war sehr einfach, aber sauber, unser Zimmer lag im Erdgeschoss, außer einem breiten Bett und einem Schrank aus tropischen dunklen Hölzern war es leer, die Wände gekalkt, nebenan ein ähnlich karges Bad. Wir waren zufrieden mit der Auswahl, die das Schicksal in Gestalt des Riksha-Fahrers für uns getroffen hatte, packten die Rucksäcke aus, erfrischten uns und genossen die Ankuft an einem sicheren und ruhigen Ort nach einer in den letzten Tagen strapaziösen Reise.

Vor unserem Zimmer lag eine schattige Terrasse, zwei einfache Tische, ein paar Plastikstühle, wo uns die Wirtin erst eine Limonade, später dann ein einfaches Abendessen servierte. Außer uns beiden schien es keine weiteren Gäste zu geben.Während wir aßen, setzte sich die freundliche Madame zu uns, um zu plaudern: wer wir seien, woher wir kämen, wohin uns die Reise weiter führen würde – die Grundfragen an Fremde in der ganzen Welt. So erfuhr sie auch von unserem ärztlichen Beruf, und sofort glitt ein kummervoller Schatten über ihr Gesicht. Ihr kleiner Sohn sei sehr krank, sie mache sich große Sorgen.

Mein Freund holte sein Stethoskop und ließ sich zu dem kranken Kind führen. Nach der Untersuchung konnte er die Wirtin beruhigen, das Kind hatte einen hochfieberhaften Infekt, es bestand aber keine akute Gefahr, mit einer entsprechenden Medikation könne man die Symptome lindern und die Genesung unterstützen. Die Mutter war zunächst erleichtert, sagte dann aber, sie habe leider kein Geld um diese Medikamente zu kaufen. Wir gaben ihr einen entsprechenden Betrag, und sie nahm ihn  ohne zu zögern dankbar an und meinte, sie würde sich noch erkenntlich zeigen. Wie wollte sie dies machen? Wir hatten keine Ahnung.

 

Am nächsten Tag, es war ein Freitag, erkundeten wir zu Fuß die Stadt, den alten Hafen, den kilometerlangen sandigen Strand am indischen Ozean. Es gab fast keinen Tourismus dort, viele hölzerne Straßenstände mit dem reichhaltigen einheimischem Obst und Gemüse, nur wenige größere Geschäfte, aber recht viele kleine Restaurants, Cafes und Bars, sogar eine Disco: hier empfing die alte Hafenstadt ihre Besucher, meist Geschäftsleute und Schiffsbesatzungen, die vom Meer her kamen. Draußen auf See, noch vor dem Hafen, lag ein großes Kriegsschiff vor Anker, grau und weiß schimmernd auf dem bleifarbenen Meer, ein unheimlicher Fremdkörper vor dem bunten Gewimmel der Stadt. Die Bevölkerung schien zumeist ärmlich zu sein, die Menschen wirkten aber heiter und gelassen, die vermüllten und staubigen Straßen waren erfüllt von Rufen und Gelächter. An jeder Straßenecke standen zwei, drei der bunt bemalten Rikshas, ihre Besitzer und Beweger warteten, miteinander plaudernd und rauchend, auf Kundschaft.

Als wir am späten Nachmittag zum Etoile Rouge zurückkehrten und auf der Terrasse eine Kaffee trinken wollten, saß dort die Madame mit einer jungen Frau: „Olivia“, stellte sie uns diese vor, „meine Nichte“. Schwarze Latzhose, schwarzes T-Shirt, weißer Hut, funkelnde Augen und ein breites Lächeln im dunklen Gesicht. Neugieriges und heiteres Geplauder, Olivia habe noch eine Cousine, Victoria, die käme dann später. Ah ja. Wir hatten noch nichts verstanden. Erst als die Wirtin meinte, sie sei mit ihren fünfunddreißig Jahren ja inzwischen zu alt, und uns mit Olivia allein ließ, dämmerte es mir: Das war ihre Art, sich erkenntlich zu zeigen. Wollte sie uns mit ihrer Familie bekanntmachen? An die Cousinen- Nichten-Geschichte glaubte ich die ganze Zeit dort; erst in den Tagen mit Olivia erahnte ich etwas von dem Netzwerk der Straßenmädchen in dieser Hafenstadt, ihrem abhängigen aber selbstbewussten Leben und ihrer Solidarität untereinander.Zunächst aber plauderten wir mit Olivia, später stieß auch Victoria dazu. Und ohne jede Frage, mit völliger Selbstverständlichkeit wurde klar, dass mein Freund mit Victoria und ich mit Olivia später am Abend in die Stadt ziehen würden.

Es war vielleicht ein halber Kilometer ins Stadtzentrum, diesen Spaziergang durch ihre Stadt hätte ich mit Olivia gerne gemacht, um mir von all dem ringsum erzählen zu lassen. Aber sie machte mir schnell klar, dass dies eine hier kaum verständliche europäische Sichtweise war. Wie sollen dann die Riksha-Fahrer ihr Geld verdienen? Und es gehörte wohl auch zum Status eines Freudenmädchens in Tamatave, das mit einem Europäer unterwegs war, gefahren zu werden. Sie bestand auf einer Riksha, begrüßte den Zieher des Gefährtes wie eine Vertraute und nahm mir mit ihrer selbstverständlichen Plauderei die anerzogene Scham: der muskulöse Rücken vor uns unter dem verblichenen T-Shirt war ein notwendiger Teil des Spiels, in das ich geraten war. Wären wir zu Fuß gegangen, hätte sie sich wohl den Unmut einiger Riksha-Kollegen zugezogen.

An diesem ersten Abend mit Olivia zogen wir durch die Stadt, tranken hier einen Kaffee und dort ein Bier und sie erzählte von sich wie eine alte Freundin: von ihrer Familie am Stadtrand, von ihrem zweijährigen Kind, das gerade in der Obhut ihrer Mutter war, von ihren Freundinnen, die sie unterwegs traf in den Bars von ihrem Moped, das aus Deutschland stammte: NSU. Ich war verunsichert: ging es hier wirklich um käufliche Liebe? Hin und wieder stellte ich vorsichtige Fragen nach dem Preis, die sie aber empört zurückwies mit einem Gestus, der mir ein genaueres Nachfragen verbot. Trotzdem war die Situation eindeutig: schon in der Riksha hatte sie sich an mich gelehnt und dann mit einem heftigen Zungenkuss überrascht, die Situation war für mein Verständnis eindeutig. Aber es durfte anscheinend nichts ausgesprochen werden.

Nach ein paar Stunden kehrten wir zum Etoile Rouge zurück im unausgesprochenen Einverständnis, dass dort ein Zimmer und ein Bett auf uns wartete. Aber es war besetzt: mein Reisegefährte hatte vielleicht weniger Fragen als ich gehabt und war mit seiner Victoria schneller zur Sache gekommen. Inzwischen nehme ich an, dass sich die beiden Frauen in diesem kurzen Kontakt souverän verständigt hatten. Jedenfalls war uns beiden klar, dass wir noch einige Zeit warten mussten. Wir spazierten zum nahegelegenen Strand im Süden der Stadt, die tropische Nacht war warm und ein weiter Sternenhimmel breitete sich über uns und dem dunklen Ozean aus. Wir beide wussten: nun ging es darum, uns noch ein wenig die Zeit zu vertreiben. Beim Spaziergang an der Brandung entlang bückte sie sich ein paar Mal, ergriff eine Krabbe und zwickte ihr mit bloßen Händen eine Schere ab. Dies sei eine Rache, erklärte sie mir, an diesem Volk der Krabben, die einen geliebten Onkel mit ihren Scheren einmal empfindlich verletzt hatten.

Wir saßen dann auf einer Bank, aneinandergelehnt, und sie sang mir malegassische Volkslieder vor. Dann sollte ich auch die Lieder meines Volkes singen und mir wurde schmerzhaft bewusst, wie sehr der deutsche Faschismus mir die Liebe zu diesem „Volksgut“ genommen hatte. Ein paar Volkslieder fielen mir ein, dann wich ich aus auf jiddische Lieder, die mir damals näher waren. Sie merkte den Unterschied nicht, aber ich werde diesen Augenblick nicht vergessen: wie ich mit einem schwarzen Mädchen im Arm, am Ufer des indischen Ozeans in sternklarer Nacht, weit entfernt von meiner Heimat und meiner Geschichte, diese jiddischen Lieder sang. Und wie unser gemeinsamer Gesang alle Unterschiede zwischen uns unwichtig machte. Es gab nur uns beide und den Sternenhimmel und das Meer und die Lieder.

Als wir spät in der Nacht beim Etoile Rouge ankamen, waren Victoria und mein Freund wieder ausgeflogen. Die körperliche Begegnung mit Olivia gehörte zu dem Spiel, auf das ich mich eingelassen hatte. Aber ich wusste trotz aller körperlichen Lust, dass wir diesen Höhepunkt schon hinter uns gelassen hatten.

 

Dass der nächste Tag ein Samstag war, und was das für eine Bedeutung hatte, erfuhr ich erst am Nachmittag, als Olivia wieder am Hotel auftauchte, um mit mir in die Stadt zu gehen. Das Kriegsschiff, dass ich am Hafen draußen auf dem Meer gesehen hatte, war voller französischer Matrosen. Zweihundert französische junge Männer, so erzählte Olivia, hatten von Samstag auf Sonntag „Landgang“ – ein großes Ereignis für die ganze Stadt und besonders für ihre Freundinnen, die Straßenmädchen von Tamatave.

Zunächst aber führte sie mich, mit der Risha natürlich, an den Stadtrand, in eine Gegend, wo sich kleine Häuser und einfache Hütten in engen Gassen reihten. In einer dieser Hütten wohnte sie mit ihrer Mutter und brachte mich dorthin zu Besuch. Die Mutter begrüßte mich herzlich und ohne jede Frage, das etwa zweijährige Kind schien mehr mit seiner Oma zu leben und in seiner Mutter Olivia eher eine Tante zu haben, vertraut aber nicht ganz so wichtig. Wurde jeder ihrer Freier hierher in ihr Zuhause geführt? Und war das Wort „Freier“ überhaupt angebracht? Ich konnte mir das nicht vorstellen. Gehörte das mit zum Spiel? Ging es vielleicht doch um Anderes, um mehr als käufliche Liebe? Mit kindlicher Freude zeigte mir Olivia ihr ärmliches Zuhause und dann auch ihr Moped. Das sei leider kaputt, jemand hatte den Vergaser ausgebaut, auf dem die NSU-Prägung mir mit plötzlicher Vertrautheit begegnete. Ob ich, zu Hause in Deutschland, ihr dieses Ersatzteil besorgen könne?

 

Am frühen Abend ging es wieder in die Stadt. Die Frage nach dem Preis für ihre Begleitung war immer noch nicht geklärt und offensichlich auf direkte Weise nicht klärbar. Noch ein, zwei Mal hatte ich vorsichtige Fragen dazu gestellt und jedesmal Empörung geerntet. Aber über ein spontanes Geschenk hatte sie sich königlich gefreut: Wir hatten mit meinem walkman Musik gehört, über einen damals ungewöhnlichen Kopfhörer mit einem Scherengitter, mit dem das sperrige Teil kompakt zusammenschieben konnte. Sie war so fasziniert davon, dass ich ihr dieses Gerät schenkte. Und in ihrer Freude ahnte ich hier einen Ausweg. Außer dem Ausführen in die Stadt könnte es vielleicht um Geschenke gehen. Wir gingen also einkaufen, eine Bluejeans, ein glitzerndes T-Shirt, ein bisschen Strass-Schmuck.

 

Als es dunkel war, herrschte dichtes und lautes Treiben in den Cafes, Bars und Diskotheken im Zentrum. Überall saßen ihre Freundinnen und Kolleginnen, viele im Arm oder an der Hand eines französischen Matrosen in Uniform, plaudernd, scherzend, lachend. Man kannte sich und grüßte sich, ein paar ihrer Freundinnen wurde ich vorgestellt wie ein alter Freund. Wir zogen von Cafe zu Cafe, von Bar zu Bar und ich genoss ihre Begleitung sehr: mit ihr gehörte ich irgendwie dazu, war kein fremder Besichtungstourist mehr. Sie erzählte mir Geschichten über diese Freundinnen und die Freuden und Grenzen dieses Amusements, eine unendliche Geschichte, ein wunderbarer Tratsch im bunten Getümmel. Ihre schwarzen Kolleginnen waren eindeutig Herrinnen der Lage, die sehr jungen weißen Matrosen in ihrem Kielwasser wirkten oft schüchtern, mit Mühe ihr Begehren beim seltenen Landgang zügelnd, hineingeworfen in eine fremde Welt mit fremden Gesetzen wie ich. Manchmal saßen wir auch plaudern zusammen mit hübschen, aufgeputzten Mädchen, die in dieser Nacht noch keinen Begleiter gefunden hatten, sie schnatterten in ihrer Sprache, immer strahlend, immer voller Gelächter in den dunklen Gesichtern. Und, soviel mir Olivia übersetzte, auch mit einer gehörigen Lästerei über die Unerfahrenheit und Schüchternheit der jungen Matrosen, die allerdings in ihren Gesten untereinander sich signalisierten, Herr der Lage hier zu sein. Es war ein wunderbares Theater.

Aber einmal wurde sie sehr ernst. Wir saßen in einer Bar, in deren Hintergund ein älterer Europäer saß, als einziger allein in diese Welt voller Begleitung. Olivias Augen verengten sich voller Zorn: dieser Holländer, ein Geschäftsmann, der für ein paar Wochen in der Stadt war, hatte eine ihrer Freundinnen schlecht behandelt. Genaueres darüber sagte sie nicht, aber dieser Mann hatte offensichtlich „verspielt“, alle hier wussten: ein böser Mann. Er bekam ein Bier vom Wirt oder der Wirtin, nicht mehr. In Andeutungen ging es auch um Rache für die Freundin, die so schlecht behandelt wurde, die Rache der Freudenmädchen von Tamatave. Und ich erinnerte mich mit Schrecken, wie sich Olivia am Volk der Krabben gerächt hatte.

 

Die wechselnde Benutzung unseres Zimmers im Etoile Rouge war inzwischen besser geregelt, mein Reisegefährte war mit Victoria offensichtlich ganz anders unterwegs, wir waren den beiden in der Stadt nie begegnet. Als ich in der späten Nacht Olivia zu einer Riksha begleitete, die sie nach Hause bringen sollte, meinte sie beim Abschied, dass wir uns am nächsten Sonntagmorgen unbedingt vor zehn Uhr in einem bestimmten Hotel zum Frühstück treffen sollten. Mit einem Schalk in den Augen versprach sie mir dort ein besonderes Erlebnis, das zu so einem Wochenende mit Landgang von Matrosen in Tamatave gehören würde.

Nach dieser langen Nacht trafen wir uns also recht früh in der Halle dieses Hotels, das um einige Klassen edler war als das Etoile Rouge. Ebenerdig zum Eingang mit gewichtigen Flügeltüren aus Messing und tropischem Holz öffnete sich ein großer Speisesaal, von dem aus zwei weite und gewundene Treppen in die oberen Stockwerke führten. Alles war in Weiß gehalten, das Licht flutete durch große Sprossenfenster herein. Es war ein Hotel, wie ich es aus alten Filmen kannte, herrschaftlich und konstruiert wie ein Bühnenbild.

In dieser Frühe waren wir die einzigen Gäste und bestellten in dieser Halle ein großes Frühstück, das uns formvollendet auf Leinentischtüchern serviert wurde. Olivia plauderte munter und meinte, bald werde ich erleben, was sie mir vorführen wollte, und kicherte schon in Vorfreude darüber.

Punkt zehn Uhr erklang von ferne ein Schiffshorn, mehrfach und mahnend. Das war, so eklärte mir meine erfahrene Begleiterin, das Signal des Kriegsschiffes draußen: Ende des Landgangs. Ab jetzt würden die Matrosen in kürzester Zeit zurück an Bord erwartet.

Offensichtlich hatten sich die meisten der jungen Männer, einem unausgesprochenen aber dort wirksamen Gesetz folgend, mit ihren Mädchen in diesem Hotel einquartiert, und wurden durch dieses militärische Signal aus ihren süßen Träumen gerissen, oder aus einem bleiernen alkoholischen Schlaf, oder die Mädchen hatten sie geweckt, weil sie dieses Signal kannten.

Auf jeden Fall stolperte kurz danach ein Matrose nach dem anderen die breite Treppe herunter, in größter Eile. Die ersten, eher darauf vorbereitet, in gut gerichteter Matrosenuniform, die nächsten und je später um so mehr, offensichtlich überrascht und noch nicht ganz eingekleidet, die Jacke im Laufen überstülpend. Immer mehr Matröslein stürzten in den nächsten zehn Minuten diese großartige, breite, gewundene Filmtreppe herab, aus einem schönen Traum gerissen, in größter blinder Eile. Die allerletzten zogen sich im Laufen noch ihre Hosen hoch, Olivia amüsierte sich köstlich. Und wahrscheinlich lagen ihre Freundinnen noch in den Betten und ahnten aus langer Erfahrung das Schauspiel, das sich uns beiden in der Eingangshalle bot.

 

Am Nachmittag wartete ein kleines zweimotoriges Flugzeug auf meinen Reisegefährten und mich, das uns auf die vor der Küste gelegene Insel St.Marie bringen sollte, über Hunderte von Jahren der Rückzugsort für Piraten, die den indischen Ozean und damit die kolonialen Handelswege unsicher machten. Olivia war betrübt. Warum blieb ich nicht hier, in ihrer schönen Stadt voller Gelächter? Nach vierzehn Tagen würde ich zurückkehren, so machten wir es aus, und dann noch ein paar Tage miteinander verbingen.

Sie begleitete uns zum Fughafen, einer kleinen Holzbaracke am Rande eines holprigen Rollfeldes. Beim Abschied war ihr Lächeln mühsam, und sie stand an der Holzschranke des Rollfeldes, wartete bis zum Start und winkte beim Abheben des Flugzeuges noch einmal, eine kleine schwarze Gestalt mit weißem Hut. Und mir war kurz weh ums Herz mit dem Gefühl, eine Freundin zu zurückzulassen wegen eines Reise-Abenteuers.

 

Bei meiner Rückkehr nach Tamatave hatte das Kriegsschiff längst den Hafen verlassen, die große Aufregung war verschwunden, und Olivia wünschte sich eine kleinen Ausflug woanders hin. Ich überließ alles ihr, hatte keine Ahnung, wohin sie uns bringen wollte, und fand mich bald in einem überfüllten Sammeltaxi, das nach Norden fuhr. Mit einer Einheimischen an meiner Seite geriet ich näher an die Lebensweise der Malegassen heran und genoss es. Diesmal wurde ich nicht begleitet sondern geführt.

Ihr Ziel war ein Urlaubsressort, das vorwiegend von reicheren Malegassen besucht wurde. Zwei Tage verbrachten wir in einem Hotel, einem zweistöckiger Holzbau mit mehreren Zimmern, an einem langen leeren Strand, wo die mächtige Brandung des indischen Ozeans rauschte und donnerte. Olivia bestellte ihre Lieblingsgerichte, oft eine Kombination von frischem  Fisch mit Kokosnuss und gebratenem Gemüse. Wir gingen spazieren, plauderten, tranken Bier und Wein – aber was uns verbunden hatte, fehlte. Keine überfüllte, laute, bunte Stadt, kein Gelächter mit den Freundinnen, kein Getratsche. Ringsum war nur Urwald und Ozean. Trotzdem schien sie dieses Leben zu genießen, in einem Luxus, der für sie nur mit einem europäischen Freund erreichbar und für meine Verhältnisse immer noch sehr bezahlbar war.  Ich aber wurde melancholisch in diesen stillen zwei Tagen, an diesem ereignislosen Ort. Meine Reisezeit ging zu Ende, die Abenteuer waren vorbei.

 

Ein Abschied wieder am kleine Flugplatz von Tamatave, diesmal für immer. Wir hatten Adressen ausgetauscht, versprachen uns zu schreiben. Ich hatte den kaputten NSU-Vergaser im Rucksack. Sie hatte den Hut trotzig tiefer in die Stirn gedrückt, in ihren Augen glitzerten Tränen. Mir fiel der Abschied schwer, ich hätte mich gerne noch einmal im Etoile Rouge einquartiert und mit Olivia auf das nächste Kriegsschiff gewartet. Aber ich musste zurück, meine Reisezeit ging zu Ende.

Traurig saß ich mit meiner Flugangst in dem kleinen klapprigen Flieger, der uns zum Anschlussflug in die Hauptstadt bringen sollte. Und als ob das Schicksal mir meine Trauer über ein vergangenes Abenteur nehmen wollte, geriet das Flugzeug beim Anflug über Antanarivo in ein heftiges tropisches Gewitter mit einem ungeheuren Wolkenbruch. Die Turbulenzen schüttelten das alte Fluggerät durcheinander, lange, sehr lange kreiste es über der Stadt, weil die Landebahn überflutet war. Nach einer halben Stunde drangen die Wassermassen in die Passagierkabine, wo es auf die etwa zwanzig Menschen dort tröpfelte: Ein Flugzeug, in das es hineinregnet? Die Maschine kreiste mit brummenden Motoren, von den Winden geschüttelt, tief über der Stadt. Beim Blick aus dem Fenster nur graues Wasser und Blitze. Wie alt war dieses Flugzeug, wie gut gewartet, wie lange würde der Treibstoff reichen? Wie gelähmt vor Angst saß ich in den Gurten und es gab keinen Raum mehr in mir für irgendeinen kleinen Abschiedsschmerz, wenn es doch vielleicht um den großen Abschied gerade ging.

 

Nach der geglückten Landung war die Erleichterung groß, der Umstieg in das so viel größere, europäische Flugzeug eher tröstlich und ich war den Schicksalmächten dankbar für meine Ankunft zu Hause. Der neue NSU-Vergaser war bald besorgt und nach Tamatave geschickt, in den folgenden zwei, drei Jahren gingen ein paar Briefe hin und her in unserem gemeinsamen Kauderwelsch aus Englisch und Französisch, ein paar deutsche Brocken hatte sie gelernt. Dann ging der Kontakt verloren.

Ich hatte sie schon fast vergessen, als nach etwa zehn Jahren nachts um halb drei mich das Telefon aus dem Schlaf holte. Ein Anruf in so tiefer Nacht? Das konnte nur etwas sehr Dringendes und wahrscheinlich nichts Gutes bedeuten. Am anderen Ende der Leitung eine weibliche Stimme, aufgeregt, kichernd, in einer Mischung aus Englisch und Französisch. Im Hintergrund viele Stimmen, Lärm, laute Musik offensichtlich eine Party. Nur allmählich verstand ich: es war Olivia, sie war nach Europa gekommen, rief aus Toulouse an, von einer Party mit anderen malegassischen Einwanderen. Sie wirkte wie betrunken, ich verstand im Lärm und aus ihren Satzfetzen kaum etwas. Sie hatte also meine Telefonnummer immer noch parat. Ich war gerührt über diesen nächtlichen Kontakt, aber auch verärgert über diese absolut unpassende Zeit. Trotzdem: vielleicht hatte sie sich Mut angetrunken, um mich anzurufen.

Kauderwelschend hin und her bat ich sie, mich doch in den nächsten Tagen noch einmal anzurufen, am besten am frühen Abend, da sei ich immer erreichbar...

Ich habe seitdem nichts mehr von ihr gehört.

 

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