Ein Mann

 

2005

 

Unterwegs auf den kanarischen Inseln gelangte ich in ein einsam gelegenes Fischerdorf namens Ajuy: nur eine Stichstraße führte dorthin. Wenige weißgekalkte Häuser standen an einem Hang über einer Bucht mit schwarzem Sand, schroffes Gestein ringsum, die Gegend war karg und düster, das Meer dunkel, die Brandung donnerte gegen die Felsen. Unten am schwarzen Strand lagen ein paar Fischerboote, es gab eine Bar, in der man sich abends traf. Sie hieß La Jaula de Oro, „Zum goldenen Käfig“. Der Wirt hatte trug einen Strohhut und hatte ein indianisch wirkendes Gesicht, ich nannte ihn für mich den „Mestizen“. Die Männer dort tranken Schnaps und aßen Schinkenscheiben, den der Mestize mit einem großen Messer abschnitt. Kleinigkeiten zu essen wurden auch serviert, einfache Kost, meistens Fisch. Es gab keinen Laden zum Einkaufen, ich sah dort nie eine Frau.

In dieser Bar kam ich an, zu Fuß unterwegs, und fragte nach einem Ort zum Bleiben. Man schwieg neugierig; dann wies einer auf eine unbewohnte Hütte oben in den Felsen über dem Strand. Ich ging einen steilen Pfad hinauf, fand vier rohe Holzwände, verkohlte Reste auf einem brüchigem Dielenboden und ein undichtes Dach. Dort war ich zehn Tage, lange Tage voller Neugier und Angst. Die Hütte zitterte nachts unter der Gewalt der Wogen, die sich an den Felsen brachen. Wer hatte hier gewohnt? Warum war sie verlassen?

Diese Hütte war mir unheimlich. Tagsüber erkundete ich die wilde Felsenküste, die sich kilometerweit nach Norden und nach Süden erstreckte. Zehn bis zwanzig Meter ging es steil und zerklüftet hinab zum tobenden Meer, die Küste war voller großer Löcher und Spalten, die schwere Brandung donnerte mit hoch aufspritzender Gischt gegen das ausgehöhlte Land, ein unendlicher rhythmischer Ansturm, mit gewaltiger Kraft.

Die Abende verbrachte ich im Goldenen Käfig. Dort schrieb ich Tagebuch, trank Brandy, kam mit den Männern ins Gespräch. Später sangen wir zusammen zur Gitarre, sie sangen ihre Lieder, ich sang ihnen meine vor. Alle Männer schienen mir traurig und einsam, und ich ahnte, dass an diesem dunklen Ort kein Glück zu finden ist. Ein Strand in der Nähe hieß Playa de los Muertos, Strand der Toten“, weil dort in den Riffen und dem wilden Meer viele Schiffe gekentert waren.

In diese Bar kam oft auch ein Mann mit tiefblauen Augen, sehr kräftig und mit Schwielen an den Händen. Er saß anfangs immer am Rande und schwieg. Von den Anderen er wurde verlacht, und er trank sehr viel. Nach ein paar Tagen kam er abends zu meinem Tisch und stammelte etwas, ich verstand ihn nicht. Er gab mir eine Plastiktüte, in der war Brot. Ich brauchte dringend Brot, mein Zwieback-Vorrat war verbraucht.

Später verstand ich von seinem Stammeln ein wenig: er rühmte sich seiner Freunde hier. Aber die Anderen machten sich über ihn lustig, und oft warfen sie ihn aus der Bar, wenn er, betrunken, anfing zu stammeln. Ich verstand nicht, worum es ging.

Einmal, nach einer Nacht voller Albträume im Donnern der Brecher an die ausgehöhlten Felsen, wurde ich im Morgengrauen wach: Schritte vor meiner Hütte. Ich hatte Angst. Eine kehlige, fremde Stimme rief etwas, was ich nicht verstand. Vorsichtig öffnete ich die Tür. Draußen stand der Mann mit den blauen Augen, den kräftigen, blondbraunen Locken, und stammelte etwas. Er hatte eine Plastiktüte in der Hand. Aus dieser Tüte holte er wieder Brot für mich und eine Kanne heißen Tee. In der anderen Hand zeigte er mir trockene Pflanzenkrümel. Aus diesen, so gestikulierte er, war der Tee gemacht, er hatte sie selbst gesammelt. Der Tee war bitter, aber reich und intensiv im Geschmack.

Wir saßen dann stumm und beide stammelnd vor meiner Hütte über dem Meer. Die Sonne ging über den Bergen auf. Ich verstand kaum etwas von dem, was er sprach. Ein schönes, dunkles Gesicht, vom Wetter gegerbte Haut, ein Körper voller Kraft. Er zeigte mir seine mächtigen Muskeln. Welche Bilder, welches Leben war hinter dieser Stirn? Er liebte seine Mutter, soviel konnte ich verstehen. Er sprach von einem großen Bruder, der weit weg ist. Dieses Dorf war nicht seine Heimat, er war irgendwie hierhergeraten. Dann brach er plötzlich auf, „zur Arbeit“, und war verschwunden. Drei Tage lang sah ich ihn nicht mehr.

An einem Abend, sehr spät nach dem Besuch im „Goldenen Käfig“, lag ich schon länger im Schlafsack. Es war stockdunkel und die Brandung ließ die Felsen zittern. Ich konnte kaum einschlafen in dieser dauernden Bewegung. Im Halbschlaf hörte ich wieder Schritte draußen, heftiges Atmen, schreckte auf und sah sich bewegendes Licht durch den Türspalt. Wieder voller Angst öffnete ich die Tür: was sollte ich sonst tun, sie war nicht verschließbar. Da stand er wieder vor mir, mit einer Taschenlampe fuchtelnd und laut stammelnd. Wieder verstand ich kaum ein Wort, nur dass er mich warnen wollte, vor irgendetwas oder irgendwem. Sein Erscheinen hatte mich beunruhigt. Was konnte wahr sein an dem, das ich vielleicht falsch verstanden hatte? Ich konnte kaum noch schlafen, aber es passierte nichts in dieser Nacht. Dieser Mann hatte mir nicht nur Brot, sondern auch seine Angst gebracht.

Kurz danach ergab sich eine Gelegenheit, diesen Ort schnell zu verlassen.

Ich erinnere mich noch an den schwarzen Sand, die schroffen Felsen, meine Hütte, die Häuser in der Bucht. Ich sehe noch diese Baracke vor mir mit der handgemalten Aufschrift La Jaura de Oro auf dem Verputz und den Mestizen, wie er mit unbewegtem Gesicht unter dem Strohhut Schnapsgläser füllt und Schinken schneidet. Die Fischer, mit denen ich geplaudert und gesungen hatte, habe ich vergessen.

Aber der Mann mit den tiefblauen Augen im dunklen Gesicht, mit seinen Muskeln und seinem Gestammel, seinem Brot und seiner Angst für mich, ist mir geblieben. Er war auf seine Weise heimatlos und war mir, dem Fremden, nahegekommen. Ich werde ihn nicht vergessen und weiß nicht einmal seinen Namen.

 

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