Nächtliches Umsteigen

 

 2017

Ich war mitte Zwanzig, in den 1970ger Jahren, und mit dem Zug unterwegs nach Griechenland, mit einer Freundin. Bis nach Bari im Süden Italiens waren wir geraten, und suchten dort nach dem Zug, der uns weiter in den Süden nach Lecce bringen sollte, wo die Fähren nach Griechenland ablegen.

Es war schon in der Nacht und wir stolperten, viele Stunden Zugfahrt im Bauch, mit unseren Rucksäcken durch den Bahnhof voller Menschen und Wörter in einer fremden Sprache. „Lecce“ lasen wir dann irgendwo, suchten das entsprechende Gleis und warteten dort müde auf den Zug, in der Hoffnung auf vielleicht ein wenig Schlaf bis zur Ankunft dort, wo wir eine Fähre nach Patras finden mussten.

Der Zug fuhr ein, kurz vor Mitternacht, er hielt mit kreischenden Bremsen. Im Lautsprecher unverständliche, blecherne Ansagen, viele Menschen mit Sack und Pack drängten zu den Türen. Durch die erleuchteten Fenster des Zuges hatten wir schon beim Einfahren gesehen: jedes Abteil war voll. Wahrscheinlich mussten wir auf unseren Rucksäcken im Gang sitzen, die Hoffnung auf eine Mütze voll Schlaf sank rapide. Am nächsten Tag dann, auf der Fähre, würde es Platz und Zeit zum Schlafen geben. Bis dahin mussten wir wohl noch durchhalten, übernächtigt wie wir waren. Hauptsache, es ging weiter nach Süden, durch die Nacht, unserem Ziel entgegen.

Im Gedränge enterten wir den Zug, umgeben von lauten Rufen und dem Geplapper in einer fremden Sprache. Gesichter, Körper, Rempeleien, Koffer, Körbe, Plastiktüten, Gelächter, Gerüche – der Zug hatte sich schon wieder in Bewegung gesetzt, als wir uns in diesem Gedränge auf den schmalen Gängen auf die Suche machten nach einem Platz für diese überfüllte Nacht.

Einige Waggons hatten wir uns schon entlanggekämpft, als wir an einem Abteil vorbeikamen, das auch mit Menschen und Gepäck aller Art voll beladen war. Aber waren da nicht zwei Plätze frei, belegt durch Taschen, Körbe, Tüten? Auf unseren fragenden Blick winkten die Menschen hinter der Glastüre, herein, herein! Und zogen ein Kind auf den Schoß und warfen eine Tasche auf die Koffer im Gepäcknetz und stellten die Provianttüten zwischen ihre Beine: zwei Sitzplätze waren frei, und man half uns, die schweren Rucksäcke in die letzten Lücken über den Sitzen zu hieven.

Als wir erschöpft und glücklich auf unseren Plätzen saßen (vielleicht doch noch ein Nickerchen in der Nacht?), wurden wir ringsum von einem Lächeln begrüßt. Ältere Leute zumeist, gefurchte Gesichter, knotige Hände und ein kleiner Junge auf dem Schoß des Großvaters, offensichtlich eher Leute vom Land als aus der Stadt. Und große Neugier auf diese beiden jungen Fremden, ein Redeschwall, hier kaum ein italienisches Wort, dort kaum ein englisches. „Tedesci“, immerhin, das konnte geklärt werden, aus Deutschland. Und wenn man schon nicht miteinander plaudern kann, so kann man doch miteinander essen.

Der Zug ratterte durch die stockdunkle Nacht, kaum ein Licht flog hinter den Fenstern vorbei, und unter der gelben Lampe des Abteils wurde im italienischen Geplauder, von dem wir nichts verstanden, der Proviant ausgepackt, Brot und Käse, Eier und Tomaten, Gurken und Oliven. Die beiden jungen Rucksackreisenden aus Deutschland wurden bäuerlich-fürstlich bewirtet, und wir beide hatten nichts, was wir diesen freundlichen Menschen hätten anbieten können. Das wurde aber wohl kaum erwartet: wer von so weit her mit einem Rucksack reiste, war eher bedürftig. „Grazie!“ konnten wir sagen und „bene!“ und sie freuten sich über diese Wörter in ihrer Sprache.

So saßen wir, vom Schicksal überraschend beschenkt, in dieser fahrenden Herberge etwa eine Stunde, während der der Zug in tiefer Nacht eine scheinbar unbewohnte Landschaft durchquerte. Dann hatte es der Schaffner durch den proppenvollen Zug bis zu unserem Abteil geschafft, die Abteiltür ging auf, eine Uniform kam herein: „Die Fahrkarten bitte!“ Man musste kein Italienisch können, um diesen Satz zu verstehen.

Mit einem Nicken und einem Knipsen wurden die Fahrscheine der Italiener quittiert. Als wir dem Schaffner unsere reichten, stutzte er, schaute uns an und sagte mit ernster Miene etwas, das wir nicht verstanden. Aber im ganzen Abteil entstand eine Unruhe, ein lautes italienischen Hin und Her, man schaute uns bedauernd an. Der Uniformierte instruierte unsere Mitreisenden noch mit irgendwelchen Worten, dann verschwand er wieder zur Arbeit im nächsten Abteil.

Nun wurde geradebrecht und gestikuliert, es ging um „nord“ und „sud“, und recht bald wurde uns klar: wir waren in den falschen Zug gestiegen. Diese Fahrt durch die Nacht in diesem gastfreundlichen Abteil war von Bari aus nicht nach Lecce, in den Süden, sondern zurück in den Norden gegangen. Die nächtliche und lichtarme Gegend, durch die wir in der letzten Stunde unter Gelächter und mit Oliven, Brot und Käse gebraust waren, hatte uns von unserem Ziel entfernt. Uns fiel das Herz in die Hose. Wo würden wir landen? Und wann würden wir, nun nach Mitternacht, wieder einen Zug finden, der uns nach Lecce bringen könnte?

Die Stimmen im Abteil waren aufgeregt, man versuchte, uns etwas zu erklären, aber es war umsonst, wir verstanden nichts. Die Blicke blieben freundlich, mitfühlend, sie wussten etwas, was wir nicht wussten.

Immernoch ratterte dieser D-Zug durch die italienische Nacht, durch tiefe Dunkelheit ohne Lichter weit und breit – aber in die falsche Richtung, wie wir nun wussten. Dann bremste der Zug ab, wurde langsamer. Beim Blick aus dem Fenster nur schwarze Nacht, kein Hinweis auf einen sich nähernden Bahnhof. Als auf den letzten Metern vor dem Halt auf offener Strecke die Bremsen quietschten, kam auf dem Gegengleis auch ein D-Zug zum Halten. Die Abteiltür wurde aufgerissen, der Schaffner sagte „Presto, presto!“ und deutete auf den haltenden Zug gegenüber.

Von Gelächter und vielleicht aufmunternden Worten im Abteil begleitet schnappten wir uns die Rucksäcke, hatten kaum Zeit, uns von unseren Gastgebern zu verabschieden, drängelten uns durch Menschen und Gepäck zur nächsten Tür, und stiegen dort ungewohnt tief bis auf den Schotter der Bahngeleise hinab. Die Nacht war mild und sternenklar. Wir standen zwischen dem Zug nach Norden und dem Zug nach Süden auf den Geleisen, ringsum dunkle Pampa. In den erleuchteten Abteilfenstern beider Züge drängten sich neugierige Gesichter, neugierig auf den Grund dieses unerwarteten Halts auf freier Strecke. Und man sah zwei rucksackbepackte Gestalten, die im gelben Licht der Fenster über den Schotterdamm stolperten, den einen Zug verlassend, den anderen besteigend.

Wie diese Fahrt weiterging, nun endlich in die richtige Richtung, nach Süden, das weiß ich nicht mehr. Natürlich haben wir in Lecce dann eine Fähre nach Patras gefunden, irgendwie. Vielleicht hat diese überwältigende Erfahrung auch die anderen Erinnerungen gelöscht: dass ein Schaffner in einem überfüllten Nachtzug im Süden Italiens auf zwei verirrte junge Reisende stößt und dann das ihm Mögliche und eigentlich Unmögliche tut: Den Gegenzug zu informieren und dafür zu sorgen, dass beide Züge auf offener Strecke und in tiefer Nacht gleichzeitig anhalten, um den beiden jungen Fremden ein außerplanmäßiges Umsteigen zu gestatten. Schon damals hatte ich dies für unmöglich gehalten, und heute, so scheint mir, ist es noch viel unmöglicher geworden. Aber wer weiß, ob das sogenannte Unmögliche nicht doch zu allen Zeiten immer wieder geschieht.

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