Besuch in Ganagobie

2004

 

Kurz vor Weihnachten, bei Nebel und Schneetreiben, war ich aufgebrochen, um einem schweren Schmerz und einer Verzweiflung in mir zu entkommen. Ziel war das Haus eines Freundes in der Toscana, ein kurzes Leben in der südlichen Fremde, von dem ich mir Abstand und Aufhellung versprach. Die ganze  Nacht hindurch fuhr ich, bis ich in der Provence der Morgendämmerung die Vögel zwitschern hörte. Hier war schon eine erste Erleichterung, Licht und Wärme.

Durch eine helle Wintersonne fuhr ich dann auf das Durance-Tal zu, wo auf einem Bergplateau das Kloster Ganagobie liegt. Schon auf der Fahrt dorthin stolperte ich über diesen Namen, er erinnerte mich so sehr an Ganapathi, den hinduistischen Elefantengott, der mir seit einer längeren Reise durch Indien sehr vertraut ist. Sollte es da eine etymologische Verbindung geben?

Zum Kloster führte über vier Kilometer ein enger Serpentinenweg in die Höhe, schraubte sich endlos hoch. Oben auf dem Plateau hielt ich auf einem großen Parkplatz mit einem weiten Blick auf das Durance-Tal bis zu den schneebedeckten Südalpengipfeln. Am späten Vormittag kam ich an in der Hoffnung, die Stille und heilige Nacht dort verbringen zu dürfen.

 Ein Fußweg durch ein Krüppelwäldchen war ausgewiesen zur „Eglise“, kein Wort von einem Kloster. Ich lief durch helles Licht auf weißem Geröll fünf Minuten, ringsum nur Helligkeit und Stille. Dann öffnete sich der Blick auf eine sehr kleine romanische Kirche, unspektakulär, als Eckpunkt einer sehr kleinen Gebäudeanlage. Ringsum terrassierte, nur mäßig gepflegte, kaum deutlich angelegte Gärten und Wiesen, es wirkte alles wie gewachsen und als ob es schon immer so war. Vor der Kirche unter einer alten Trockensteinmauer zwei uralte Steinsarkophage, die Körperform des Toten hineingemeißelt. Ich betrat die Kirche: sehr schlicht und klein, nichts Katholisches, durch reine Glasfenster kam das blaue Licht des Himmels. Auf einer Mini-Empore eine Mini-Orgel, eine kleine, eher wenig ansprechende Muttergottesfigur aus Holz, neuere Bauart. Ich entzündete ein Licht (es gab keine Preiseangaben wie oft üblich) und warf Geld in den Opferstock. Das Licht war für mich, für U. und M. und S., die mir nächsten im Moment, und Bitte um Hilfe. Die kleine graue Kirche war still, einfach und schön - eher eine große Kapelle.

 Dann betrat ich das Gelände vor den Gebäuden, fand das alte Haupttor mit einem neueren holzgeschnitzen Schild „Ganagobie“ – und es warf mich fast um: in das große „G“ war ein Elefant gezeichnet, krakelig und untypisch, aber eindeutig ein Elefant! Was hatte das zu bedeuten?

Neben dem alten Tor ein verrosteter Klingelzug und eine moderne Nachtglocke. Ich zog an der Glocke, es bimmelte laut. Ich wartete. Nichts rührte sich, einige Minuten lang. Wieviel Warten ist meine Aufgabe? Wieviel Wollen? Ich war hier nicht angemeldet, niemand kennt mich, ich bin ein Fremder, ein trauriger Fremder, in der Hoffnung auf einen spirituellen Ort für die heilige Nacht auf meiner Reise.

Dach einiger Zeit hörte ich Schritte, es kam jemand. Das Tor ging auf und heraus kam ein  junger Mann in weißem Kittel, am Gürtel einen Ledersack voller großer Messer. Offensichtlich kein Mönch. Er grüßte mich freundlich, fragte: haben Sie geklingelt? – und ging an mir vorbei, setzte sich auf ein Mäuerchen und rauchte eine Zigarette. Das Tor ging nicht wieder auf. Auf meinen fragenden Blick hin ermunterte mich der junge Mann (war es ein Koch?), noch einmal zu läuten.

Wieder bleibt es lange still, doch dann höre ich wieder Schritte. Das Tor geht auf und ein sehr alter Mönch schaut mich aus hagerem Gesicht mit blitzblauen Augen fragend an. Ich stammle in meinem Camping-Französisch, dass ich ein Zimmer suche für diese heilige Nacht und dass mir dieses Kloster empfohlen worden sei. Der Mönch, er redet sehr schnell, ob ich kein Geld hätte für ein Hotel (es war absolut kein Vorwurf: es war eine echte Frage) oder warum ich ausgerechnet hier nach einem Zimmer frage. Ich darauf, nach Wörtern suchend, ich sei auf der suche nach Frieden für mein Herz. Er wiederum, blitzwach: und nur eine Nacht? das ist keine lange Zeit. Und ich, mühsam erklärend meine Durchreise, und dass ich auf dem Weg nach Italien sei. Touristisch unterWegs? ist sofort seine Gegenfrage, und zieht sich dabei die schwarze Kapuze übers altersfleckig-kahle Haupt. Ich erzähle von Freunden, die ich drt treffen will. Und er: wo kommen sie her? Aus Deutschland. Da fängt er an auf deutsch zu sprechen – das Eis ist gebrochen. Trotz seiner eher schroffen Art ist er mir tief sympathisch: glasklar, direkt und sofort ganz nah. Er radebrecht deutsch und lächelt spitzbübisch: für das Deutsch sprechen sei er eigentlich zu alt.

In einer Mischung aus Französisch und Deutsch geht es weiter. Er glaubt kaum, dass es Platz für mich gibt, die Gästehäuser seien „complete“, aber er wolle den Bruder Hotelier fragen, ich solle kurz warten.

Wieder warte ich und hoffe und frage mich: was muss ich mitbringen, um hier einen Platz für die heilige Nacht zu bekommen? Was sind die ungeschriebenen inneren Gesetze dieser Szene vor dem Tor? Bin aber gelassen und weiß: es ist Weihnachten, und ich bin nicht angemeldet. Trotzdem hoffe ich, weil mich soviele Zufälle hierher geführt haben.

Nach kurzer Zeit kommt der Alte wieder, diesmal noch mehr auf deutsch radebrechend, er habe den Bruder Hotelier leider nicht finden können, ob ich noch warten könne, einen Spaziergang machen, vielleicht zwanzig Minuten. Natürlich kann ich warten, j’ai du temps, sage ich, ich werde hier vor dem Tor warten (kurze Assoziation zu Kafka). Dann sitze ich auf demselben Mäuerchen wie der Koch vorher in der warmen und gleißenden Wintersonne und rauche auch eine Zigarette. Und sitze und bin still und alles wird ruhig und warm. Ich hoffe und lasse zugleich, ein guter Zustand, ohne alle Erwartung.

Eine Viertelstunde später öffnet sich das Tor, der alte Mönch tritt hinaus: es täte ihm sehr leid, aber das Haus sei voll.  C’est très domage, sage ich, bedanke mich für seine Bemühungen und will gehen. Er aber will noch ein wenig plaudern, ein Schalk sitzt in seinen uralten blauen Augen, und erzählt, die meisten ausländischen Gäste seien Deutsche, Holländer und Belgier, fragt, aus welcher Stadt ich komme, ah, Tuebingén! kennt es also, lächelt verschmitzt, dort habe man zur Zeit sicher nicht so einen blauen Himmel wie hier und weist mit seiner Greisenhand nach oben. Ob ich öfter in Frankreich sei und ich solle doch wiederkommen, dann aber auch länger als für eine Nacht, usw. Ein vollkommen gelungener Small-Talk, sehr charmant und auf eine sonderbare Weise unmittelbar, kein Füllsel für eine Lücke, sondern eine Verbindung.

Schließlich geht es ums Verabschieden und ich möchte ihm noch eine Frage stellen: was hat dieses Kloster mit Elefanten zu tun? Ganz kurz ist er sehr erstaunt, dann geht ein Leuchten über sein Gesicht und er kommt noch näher: „Der Elefant hat ein Haus auf dem Rücken, das ist das Kloster, und der Berg ist der Elefant. Waren Sie in der Kirche? Haben Sie das Mosaik gesehen? Es ist das größte Mosaik aus dem 12. Jahrhundert.“ (Ich hatte nur eine völlig leere, schmucklose romanische Kirche gesehen) „In dem Mosaik kommen zwei Elefanten vor...“, ich spüre, wie er kurz überlegt, dann sagt er: „Kommen Sie, ich zeige es ihnen.“

Von der Klosterpforte zur Kirche sind nur etwa hundert Meter, auf einem Kiesweg leicht bergauf. Wir gehen ein paar Schritte, da fragt mich der Mönch, ob er meinen Arm haben könne, er sei etwas unsicher beim Gehen. Naturellement, er hakt sich bei mir ein und im langsamen Gehen versucht er mir etwas zu erklären, was ich nicht verstehe. Dann wird deutlich: er sucht das Wort „Stütze“. „Sie sind meine Stütze, und Jesus Christus ist die Stütze für uns alle.“ , schaut mich von unten an (er ist recht klein) und lächelt wie ein Kind.

Wir betreten die Kirche, er beugt tief das Knie und geht, ohne Stütze, zielstrebig in Richtung Chor, der durch ein dickes Seil vom Kirchenraum abgetrennt ist. Er hebt es an, bedeutet mir darunter durchzuschlüpfen und flüstert mit seinem schönen französischen Akzent verschwörerisch: „Was wir jetzt tun, ist ein bisschen verboten. Aber mit mir, da geht es.“ Dann gehen wir die letzten Schritte zur hinteren Chorwand, der mit dem Glasfenster vor dem blauen Himmel. Und nun sehe ich es, ein riesiges Schwarzweiß-Mosaik über die ganze Bodenfläche, etwa 15m² groß. Der Alte beginnt mit leiser, eindringlicher Stimme zu erklären: Es geht um gut und böse.  Hier auf der linken Seite sehen wir die wilden Vögel, sie ziehen nach Norden zu den Heiden; darunter die beiden Bestien, sehr wilde, sehr böse Tiere, der Schwanz geht ihnen durch den eigenen Leib, ein Zeichen für große Bosheit. Hier unten ist ein Vogel, dessen Körper strebt nach Norden, doch er blickt zurück und scheint zu zögern: eine erste Ahnung von der Erlösung von dem Übel. Im nächsten Abschnitt in Richtung Süden wieder Bestien, mit zwei Köpfen, Löwen mit Menschengesichtern, Vögel, die ihre eigenen Flügel zerbeißen – und der Elefant Ganagobie, ganz in weiß, er trägt ein Haus mit Turm auf dem Rücken. Das ist hier und gut, lauter Bestien ringsum, aber der Elefant: wir sind schon ein Stückchen weiter im Süden (Der Elefant ist eher auch ein Fabeltier, paarhufig wie ein großer Stier mit Rüssel und winzigem Stoßzahn, mit Pferdeohren..., er schaut nach Norden).  In der Mitte ist das Mosaik auf einer großen Fläche zerstört, nur noch nackter Steinboden. Hier stürzte der Turm zweimal auf das Mosaik, erst die Protestanten, dann die Revolutionäre... der vorletzte Abschnitt im Süden ist nur zur Hälfte erhalten: wieder der Elefant Ganagobie und drei Bestien. Der Alte vermutet, dass fünf gute Tiere fehlen, denn dies hier ist eine melange, Sie verstehen? zwischen gut und böse. Jeder Abschnitt enthält neun Figuren, und die Mischung entwickelt sich immer mehr zum Guten hin, je weiter man nach Süden schreitet. Nah an der Südwand dann ein Ritter auf einem Pferd, der den Drachen, den Lindwurm mit einer Lanze tötet. Der Alte spricht vom Ritter, nicht von St. Georg. Das Böse wird durch das Gute vernichtet, hier ist Christus. Seine Erklärungen sind voller Ernst und gleichzeitig kindlicher Schau- und Fabulierlust. Ich werde an die Rituale der hinduistischen Shivaratri-Nacht erinnert: auch da zeigten die Priester diesen spielenden Ernst, und als ich einen von ihnen nach der bedeutung all der komplizierten Handlungen fragte, meinte er ganz kurz:“ This to explain needs a full life. But shortly: all that is just a game like children play, but you must play it.“

Der alte Mönch war am Ende seiner Erläuterungen für mich angelangt. Mir fällt auf, dass der Ritter wie Feirefiz, Parzivals Halbbruder, schwarz-weiß gesprenkelt ist, und ich frage den Alten, ob der Ritter denn auch eine melange sei. Das sei ihm noch nicht aufgefallen, meint er, darüber müsse er nachdenken.

Dann zeigt er mir noch durch ein Fenster den kleinen, hellen Kreuzgang des Klosters und verabschiedet sich: „Ich lasse sie jetzt allein zum Beten.“ Ich biete nochmal meinen Arm zur Stütze an, er lehnt lächelnd ab: auf glattem Boden könne er sicher gehen, er gehe durch den Kreuzgang zurück ins Kloster. Er gibt mir die alte Hand, schaut mich an und sagt: „Bis zum nächsten Mal, vielleicht“, und ist verschwunden.

Ich setzte mich auf eine Kirchenbank, um das Erlebte zu verstehen, und hatte plötzlich Tränen in den Augen, eine Mischung aus Schmerz und Glück, und wusste nicht warum. Ein jüngerer Mönch betrat die Kirche und machte sich im Chor zu schaffen, meine Zeit hier war zu Ende. Ich verließ die Kirche und trat in das helle Sonnenlicht, ging durch das Krüppelwäldchen zurück zur Aussichtsplattform und schaute von weit oben in das Tal: dort schlängelte sich silbrig der Fluss, brummte die Autobahn, und am Horizont leuchteten schneebedeckte Gipfel.

 

Dort entschloss ich mich nach einem kleinen Imbiss, keine weitere Bleibe für diese Nacht zu suchen. Nach dieser Erfahrung hier wäre jeder Ort ein Ort der Sehnsucht geworden. Und so fuhr ich los, Richtung Italien, rechnete mir aus, dass ich mein Ziel wohl bis Mitternacht erreichen würde und wusste, dass ich den heiligen Abend auf der Straße verbringen würde, auf wahrscheinlich leeren Straßen.

So war es auch. Stundenlang fuhr ich durch die Nacht, entlang der Côte d’Azur und der Riviera, durch Dörfer und Städte mit hell erleuchteten Häusern, wo Weihnachten gefeiert wurde, mit Glück und mit Streit, mit Gelagen und voller Einsamkeit, mit Freude und Kummer, Liebe und Sehnsucht, Drama und Stille. Hinter den funkelnden Fenstern geschah die ganzen Fülle des menschlichen Lebens, und die hunderttausend Lichter waren auf der dunklen Erde verstreut wie die Sterne am Himmel.

Während ich auf den leeren Straßen durch dieses Lichtermeer fuhr, kam mir die indische Erinnerung, dass Ganapathi unter anderem der Gott der Reisenden ist, der vor jeder Reise und jeder Unternehmung angerufen wird mit der Bitte, Hindernisse aus dem Weg zu räumen.

 

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