Geschichte von der Krabbennacht

2007

 

Auf einer Reise durch Madagaskar war ich auch auf die Insel St. Marie vor der Nordostküste geraten, einem kleinen Eiland von vielleicht fünfzig Kilometer Länge und fünf Kilometer Breite. Erst lange nach der Ankunft dort, als mich Kinder durch den Urwald zu einem alten Piratenfriedhof führten, der auf einem Hügel über einer versteckten Bucht lag, erinnerte ich mich an das alte Lied „Wir lagen vor Madagaskar“ und an den Refrain von Brechts „Seeräuberballade“, in dem es heißt: „O Himmel strahlender Azur! Enormer Wind die Segel bläh! Lasst Wind und Wellen fahren, nur lasst uns um Sankt Marie die See.“

Da stand ich nun vor verrosteten Kreuzen und verwitterten Steinen, las fremde Namen und Dienstgrade, sah gekreuzte Säbel und Totenköpfe in die Steine graviert und schaute auf das Meer: ein ideales Versteck, ringsum von Hügeln umgeben mit nur einer schmalen Einfahrt von See her, die Brandung durch Korallenriffe vor der Bucht gezähmt, ein von außen kaum sichtbarer natürlicher Hafen. Es war völlig still und auch die Kinder, die auf dem Weg dorthin munter geplappert hatten, wurden angesichts der Gräber scheu und schweigsam.

Hier lagen sie also vor Madagaskar, die Piraten und hatten die Pest an Bord. Hier war Brechts See um St.Marie, von hier aus wurden die umliegenden Meere unsicher gemacht, hierher wurde die Beute geschleppt, hier herrschte Saus und Braus und Mord und Totschlag über hunderte von Jahren. Von den Inselbewohnern wurden die Piraten damals geschätzt und unterstützt, sie waren mit ihren Raubzügen ja auch Feinde der Kolonialmächte.

Inzwischen ist diese Insel ein vielbesuchtes Touristenziel geworden, Hotels sind aus dem Boden geschossen, Kreuzfahrten steuern St.Marie an und Meeresarchäologen haben das Wrack eines gesunkenen Piratenschiffes voller chinesischen Porzellans vor der Küste entdeckt. Damals aber gab es nur vier bis fünf Dörfer, durch die einzige Straße der Insel miteinander verbunden. In einem dieser Dörfer hatte einer der ersten findigen Insulaner kleine Hütten am Strand einer wunderschönen Bucht gebaut, die man für wenig Geld mieten konnte. Dort quartierte ich mich ein, genoss die tropische Idylle und das wunderbare Essen, das aus vielen Variationen der Mischung Fisch mit Kokosnuss bestand.

Dann brach ich zu einer Wanderung über die Insel auf, mit nur sehr wenig Gepäck: Wasserflasche, Schlafsack, Moskitonetz, Taschenlampe, Tagebuch. Ich ging einen Tag lang Richtung Norden an der Westküste entlang, roch den Duft aus den riesigen Nelkenbäumen, auch Zimt und Pfeffer, wilde Ananas am Wegesrand und Litschibäume, mit jeder Wegbiegung tauchten andere Aromen auf. Unterwegs schwatze ich viel mit den immer lachenden Menschen, die mir begegneten und mich teilweise für ein paar Kilometer neugierig begleiteten. Die abgelegenen Dörfer bestanden nur aus ein paar roh gezimmerten, palmblattbedeckten Hütten, in den weichen Sand gestellt. Die Bewohner begegneten mir mit einer heiteren, unaufdringlichen Neugier. Als ich mich mittags für eine kleine Pause an den Strand in den Schatten einer Kokospalme legte, hörte ich im Halbschlaf ein Flüstern und Kichern: Ich war von Frauen und Kindern umringt, sie hatten eine Bastmatte mitgebracht und bedeuteten mir, dass ich mich doch auf diese legen solle und nicht in den Sand. Dann legten sie die Matte etwa zwei Meter neben den Platz wo ich lag, deuteten nach oben und brachen in Gelächter aus. Nur ein Narr legt sich direkt in die Falllinie der Kokosnüsse.....Ich bedankte mich und richtete mich auf der Matte auf ein Nickerchen ein, und meine fürsorglichen Besucher verzogen sich rücksichtsvoll.

Ein paar Stunden später und im Wissen, wie schnell die tropische Nacht hereinbricht, suchte ich noch vor der Dämmerung nach einem Schlafplatz am Strand. Unter dem freiem Himmel und in der Nähe des Meeres fühlte ich mich sicherer als im Wald mit seinen vielen Geräuschen und unbekannten Tieren, die ich zuvor auf dem „Festland“ bei einer nächtlichen Expedition mit einem Biologen und Schlangenfänger erlebt hatte: sehr große Spinnen, Schlangen, Flughunde, der igelartige Tenrek, Lemuren.

Ich stellte mein Moskitonetz auf, trank noch einen Schluck Rum und schrieb Tagebuch – dann war es schon dunkel. Das Meer lag ruhig und silbrig, der Himmel sternenklar, die Nacht tropisch mild. Nach einiger Zeit kroch ich unter das Moskitonetz in den Schlafsack und versuchte einzuschlafen. Es wollte mir nicht gelingen, die Bilder des Tages gingen mir noch durch den Kopf, ich dachte an die Piraten, und wie fremd und allein ich hier war. Irgendwann wurde ich doch müde und entspannt und lag auf der Seite, das Ohr am Boden, kurz vorm Einschlafen.

Da hörte ich, vom Erdboden übertragen, ein kleines fernes Kratzen oder Knirschen, irgendetwas Lebendiges bewegte sich; das Geräusch vervielfältigte sich, ein unregelmäßiges Schaben und Scheuern und Schleifen von allen Seiten. Ich fuhr hoch, blitzwach, knipste die Taschenlampe an und leuchtete aus dem Moskitonetz die Umgebung ab: im Lichtkegel der Taschenlampe, der über den Strand glitt, huschten tausende etwa handtellergroße Krabben über den Sand, die großen Scheren erhoben. Wohin ich das Licht auch richtete: überall diese Krabben, geschäftig in Bewegung, so weit der Lichtkegel reichte. Es war als ob der ganze Strand lebendig geworden wäre, ein Meer von huschenden Krabben mit erhobenen Scheren und dunkel starrenden Stielaugen.

In aller Eile vergrub ich den Rand des Moskitonetzes im Sand, in der Hoffnung, dass noch keines dieser Scheusale in mein zerbrechlich-dünnes Zuhause geraten war – und dumpf ahnend, dass Krabben sich sehr wohl auch durch den Sand wühlen. Aber es war gerade nicht mehr rechtzeitig gewesen: eine saß in der Ecke am Fußende meines Schlafsackes und starrte mich, bzw. die Taschenlampe an. Von einer malegassischen Freundin hatte ich gehört, dass diese Krabben mit ihren Scheren empfindlich zubeißen können. Die einzige Waffe, die ich besaß, war die Taschenlampe. Vom Licht schien das Minimonster geblendet und gelähmt. Langsam bewegte ich meine Lampe auf die Krabbe zu, die wie hynotisiert ruhig hielt – und stieß zu.

Danach suchte ich noch einmal den ganzen Boden innerhalb des Moskitonetzes ab: mein Terrain war krabbenfrei, aber dort draußen wimmelten und wogten die Krabbenleiber durcheinander in, wie es mir schien, rasender Geschäftigkeit. Was zum Teufel taten die dort draußen? Lange saß ich noch im Dunkeln, auf der trockenen Insel im riesigen Krabbenozean, ließ hin und wieder das Lampenlicht wie ein Leuchtfeuer über die Wellen wandern: alles blieb wie es war, wimmelnd, eklig, bedrohlich. Irgendwann in tiefer Nacht, hundemüde, schlief ich dann doch ein. Nachdem in dieser Zeit kein Tier bei mir eingedrungen war, konnte ich ein bisschen auf meine wackelige Netzkonstruktion vertrauen. Es waren nur wenige Stunden leichter und unruhiger Schlaf, und seltsamerweise träumte ich von eine Krabbenmassenhochzeit gewaltigen Ausmaßes.

Mit dem ersten Tageslicht wurde ich wach und fuhr im alten Schrecken wieder hoch: das Meer lag ruhig und türkisgrün, als ob nichts gewesen wäre. Die Palmen als Schattenrisse gegen eine zarte Morgenröte und der Strand ringsum völlig leer wie am Abend zuvor. Aber ich traute meinen Augen kaum: wo vorher ein flacher Sandstrand mit dem üblichen Schwemmholz gewesen war, türmten sich nun, dicht an dicht und soweit das Auge reichte, kleine, steil aufgerichtete Hügelchen aus Sand, noch übersät von den Spuren der emsigen Nachtarbeiter. Diese wahnsinnige Nachtschicht hatte in stundenlanger Gemeinschaftarbeit Sandtürme gebaut, einen am andern, etwa 30 cm hoch. Ich saß in einer unübersehbaren Krabbensandburg wie ein Riesenkind in Liliputs Sandkasten.

Bis die Sonne aufgegangen war, schaute ich auf dieses Wunder und Rätsel. Dann kroch ich aus dem Schlafsack, baute das Moskitonetz, meine Burg aus Gaze, ab und suchte die Straße. Am nächsten Abend war ich wieder in meiner Hütte und habe auf dieser Reise keine Übernachtung im Freien mehr gewagt. Und ich frage mich seitdem, was in dieser Nacht geschehen ist und wozu, und ob mein Traum mit all dem in einem Zusammenhang stand.

 

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