Das Weinglas in der Wildnis

 

 2017

Schon seit vielen Wochen war ich mit dem Rucksack auf den kanarischen Inseln unterwegs gewesen, hatte im Freien oder in einem Biwakzelt campiert, auf wilden Felsen oder im Sand, in Höhlen oder notdürftig gebauten Unterständen, und immer eher in der sogenannten wilden Natur als in den gezähmten, gestalteten Gegenden des Inseltourismus. Zu meiner spartanischen Ausrüstung gehörte ein auf kleinste Ausmaße zusammenlegbarer Benzinkocher (mit dem halben Liter Superbenzin in der Druckflasche konnte ich stundenlang kochen, wenn die Situation kein Kochfeuerchen zuließ), eine kleine Eisenpfanne, ein kleiner Aluminiumtopf, ein emaillierte Blechteller und ein größere Becher mit Henkel, auch aus Aluminium. Zusätzliche Gefäße wurden mit dem Taschenmesser aus leeren Plastikwasserflaschen geschnitten: hohe und niedrige Becher, bei einer Längsteilung auch bei Bedarf eine Salatschüssel.

Dies war, zusammen mit dem Besteck, meine Küchenausrüstung, mit der ich immer wieder überraschend leckere Mahlzeiten zubereiten konnte, je nach dem, welche Zutaten unterwegs erhältlich und transportierbar waren: Gemüse, Eier, Fisch, Nudeln oder Reis. Für den Frühstückskaffee mixte ich mir eine Mischung aus Instantkaffee, Milchpulver und Zucker zusammen und füllte diese in eine Plastiktüte, mit der ich den Rucksack ausstopfen konnte. Zwieback, Avocados und Bananen, manchmal ein Plastikdöschen mit Marmelade, ein kleines Fläschenchen Olivenöl, Salz und Pfeffer, altes Weißbrot konnte in der Pfanne geröstet werden – ich war für meine Bedürfnisse perfekt ausgerüstet, habe kulinarisch nichts vermisst.

Im Gegenteil: wenn ich abends am Feuer saß und der nahe Atlantik seine Brecher gegen die Felsen donnern ließ, und wenn die Sonne unterging und den Himmel in allen Farben schillern ließ, dann dachte ich manchmal an die Menschen in den Restaurants der Touristenzentren und bedauerte sie: was ihnen alles entging! Die Lichter des nächsten Dörfchens funkelten am Horizont, eine dreiviertel Stunde dauerte der Gang dorthin, zu einem kleinen Supermarkt, zu einigen Bars und Restaurants.

Hier, unter freiem Himmel und in einer etwas weniger regulierten Natur, nur wenig entfernt von den Versprechungen von Sicherheit und Versorgung, duftete in der Pfanne ein brutzelnder, frisch gefangener Fisch, im Alutöpfchen war der gebratene Fenchel mit Weißwein noch warm, ein Zitronenscheibchen lag griffbereit. Und über mir ein funkelndes Sternenmeer, der Wind hatte nachgelassen, die kreischenden Möven waren schlafen gegangen. Im Licht des Windlichts, einer Kerze in einer Wasserflasche, lag der gebratene Fisch mit Fenchel auf meinem Teller, der Tisch ein Felsblock, der Stuhl ein Stein. Das Feuer flackerte und wärmte, das dunkle Meer atmete langsam mit seiner Brandung, eine gestern gepflückte Tomate brachte Farbe zwischen Fisch und Fenchel, weit und breit weder Kellner noch Speisekarten, weder Gequengel noch missratene Dekoration; Einkäufer, Koch und Esser in einer Person, begleitet von der natürlichen Symphonie des Windes und des Meeres, illuminiert vom Feuer und dem glitzernden Himmelszelt – ich saß in einem Fünf-Millionen-Sternerestaurant.

 

Eine einzige Zutat in meiner Küchenausrüstung bot dem spartanisch-praktischem Gestus Einhalt: ich wollte keinen Wein aus Plastik oder Metallgefäßen trinken und hatte ein Weinglas mitgenommen, eine klassische Boule, wie es auf französisch heißt. Es passte wunderbar, in ein Geschirrtuch gewickelt, in den kleinen Aluminiumtopf und war so gegen alle Erschütterungen einer Rucksackreise geschützt. Und nun stand es, wie so oft, auf dem Felsblock neben dem Emailleteller mit Fisch und Gemüse, gefüllt mit einem vielleicht etwas zu warmen, trockenen Weißwein. „À la votre!“ prostete ich dem Meer und den Sternen und mir selber zu, und alle Freunde und vertrauten Menschen waren mir damals in einer inneren Weise nah, die vielleicht nur unter besonderen Umständen eines längeren Alleinseins entsteht und die ich seitdem nur selten und weniger stark erleben konnte.

Dieses Weinglas hatte mich also über Wochen unterwegs begleitet, im Schlingern der Fähren von Insel zu Insel auf Deck, wo ich meinen Schlafsack ausgebreitet hatte, im Rucksack verstaut auf holprigen Pisten per Anhalter, in Wartezeiten auf irgendeiner Mole, an Abenden an verschiedenen Orten unter dem immer selben freien Himmel.

Mir war bewusst, dass es das zerbrechlichste Teil meiner Ausrüstung war. Vielleicht deswegen lag es mir besonders am Herzen, und auch als Symbol einer Zivilisierung in reduziertesten Verhältnissen: Wie lange konnte es mir gelingen, dieses Glas unter den ziemlich glaswidrigen Reisebedingungen zu bewahren? Ein falscher Griff, eine unbedachte Bewegung, ein falsch eingeschätzer Wind, eine zu schräge und glatte Felsenplatte – überall drohten Gefahren für dieses kostbare Glas. Aber ich war vom Bewusstseinsstrom dieser Reise durchaus an einen Punkt gebracht worden, in dem es hieß, dass Verluste nur eine Prüfung für Anhaftungen verschiedener Art seien

So war ich einerseits dankbar dafür, dass ich bislang dieses irgendwie unwirkliche Glas auf meiner wilden Reise nach wie vor genießen konnte, andererseits rechnete ich auch damit, dass es zerbrechen würde: Soviel Sturm und Flut, soviel Zufall und Unachtsamkeit hatte ich erlebt. All das lässt sich nicht kontrollieren.

Bislang war es aber einfach da und hatte, vielleicht mit meiner Hilfe, vielleicht mit Hilfe der Sterne, seiner eigenen Zerbrechlichkeit widersprochen.

 

Einige Wochen später war ich auf der westlichsten Insel der Kanaren gelandet, La Palma. Am frühen Morgen war ich im Hafen der Hauptstadt Santa Cruz angekommen, etwas übernächtigt von der Deckpassage mit wenig Schlaf, und trank in einer Hafenkneipe einen Espresso. Dort kam ich mit einer Frau ins Gespräch, wir plauderten über unser unterschiedliches Unterwegs-Sein und ich erfuhr, dass sie Anastasia hieß, griechische Wurzeln hatte, und in einer Behörde in Potsdam arbeitete. Sie hatte jetzt, im Dezember, sich eine kleine Flucht erlaubt und war für eine Woche Urlaub nach La Palma geraten. Heute war ihr letzter Tag hier, morgen bei Sonnenaufgang musste sie die Fähre nach Teneriffa besteigen, um den Flieger nach Hause zu erreichen, das Fährenticket hatte sie sich gerade besorgt.

Für ihren letzten Tag hatte sie keine Pläne und ich war ohne feste Ziele gerade erst angekommen. Irgendetwas hat auf dieser Kreuzung unserer so unterschiedlichen Reisewege ein kleines Feuer entzündet, wir verstanden uns gut und beschlossen kurzerhand für ihren letzten und meinen ersten Tag auf La Palma ein kleines gemeinsames Reiseprojekt. Sie hatte außer der Hauptstadt und den Stränden in der Nähe noch nichts von der Insel gesehen, und mir war alles noch völlig fremd. Wir mieteten also ein Auto, um gemeinsam ein paar Stunden noch in dieser wechselnd wilden Landschaft unterwegs zu sein. Diese Option war in meinem Reisekonzept bislang nicht aufgetaucht, ich war mit meinem Rucksack viel zu Fuß unterwegs gewesen, hatte manchmal einen Bus benutzt oder war per Anhalter weitergekommen. Mit Anastasia und dem kleinen gemieteten Auto stand uns jedes Ziel offen, und wir beschlossen, in den südlichen Zipfel der Insel zu fahren, wo auf dieser von vulkanischen Aktivität geprägten Insel 1971 der jüngste Ausbruch stattgefunden hatte. Dabei war der kleine Vulkan Teneguia entstanden, ein Besuch dieses jungen Feuerberges interessierte uns beide.

Am Mittag standen wir staunend in einer Landschaft aus dampfenden Steinen. Vom Kraterwall aus reichte, hier an der Südspitze der Insel, der Blick von Osten bis Westen weit über ein blau-türkisgrünes Meer. Schwarz und rötlich das dampfende Gestein, ein grün-gelb schillernder Kratersee, es roch nach Schwefel und auch hier, oben auf dem Kraterrand, war der Boden noch heiß: wir spürten die Hitze durch die Schuhsohlen, man musste laufen, sich bewegen, damit sie nicht verbrannten. Anastasia lachte, begann zu tanzen, ihre Silhouette auf den rotschwarzen Steinhaufen vor dem blauen Himmel und dem türkisfarbenen Meer: „Tanz auf dem Vulkan!“ rief sie, und tanzte.

Danach noch zum Leuchtturm am Südkap, keine Menschen weit und breit, danach wieder ins Grüne, Bewaldete, Bewohnte. An der Ostküste entlang zurück nach Santa Cruz, zwischendurch ein Restaurant direkt am Strand, gegrillter Fisch und Salat und ein Bad in der Brandung, im Abendlicht.

Unterwegs hatten wir uns zwei Flaschen Weißwein und Oliven, Tomaten, Käse und Brot gekauft für ein kleines Abschiedspicknick. Nicht weit vom Hafen gab es einen von schwarzen, glatten Felsen durchzogenen Sandstrand. Hier fanden wir ein schönes Plätzchen im Sand, legten die beiden Weinflaschen zur Kühlung in den Sand, wo sie das Meer umspülen konnte, breiteten auf einem flachen großen Stein unser Picknick aus. Auch mein Weinglas stand dort, es sollte für uns beide reichen.

Als wir den gekühlten Wein holen wollten, war eine der beiden Flaschen verschwunden, in kürzester Zeit, in einer Brandung, die hier, in Hafennähe, höchstens ein Geplätscher war. Wir konnten beide darüber lachen und waren uns einig: dies war ein Opfer für Dionysos, und öffneten die verbliebene Flasche, tranken aus einem Glas, beschlossen diesen letzten und ersten Tag mit diesem Picknick am Strand. Die Nacht war mild, das Sternenzelt glitzerte verläßlich über uns, und hinter uns die Lichter des Hafens und der Stadt.

Mitten im Geplauder über Feuerberge, Reisen und Lebenswege, Aufbruch und Rückkehr und das, was vielleicht bleibt, griff sie nach den Oliven und streifte das Weinglas. Ich hatte schon überlegt, es lieber in den Sand zu stellen, aber ich war nicht allein: das Picknick aus Brot, Oliven und Käse auf der Felsenplatte in der Anwesenheit dieser überraschenden und so angenehmen Reisegefährtin erforderte dieses Glas auf diesem flachen Stein, es war ein Teil des romantischen Arrangements zwischen Sternen, Strand und Meer und Nacht.

Sie streifte das Glas, es kippte um und zerbrach.

Natürlich hatte sie über dieses Glas in meinem Rucksack gestaunt und ich hatte ihr auch seine Geschichte erzählt. Nun war sie sehr bestürzt. Ich war es auch, aber vielleicht weniger als sie: nun war eben der Punkt gekommen auf dieser Reise, mit dem ich gerechnet hatte. Eine kleine Unachtsamkeit, ein Missgeschick, es hätte mir in den vergangenen Wochen tausend Mal passieren können. Sie hörte dies, fasste sich wieder, aber es blieb ein Schatten in ihrem Gesicht.

Man kann Wein auch aus der Flasche trinken. Wir leerten sie gemeinsam. Wie auch das Glas war ja auch die zweite Flasche durch die Mächte des Schicksals verschwunden. Auch darüber konnten wir schließlich lachen, und vielleicht war dieses gemeinsame Gelächter unter dem schwarzen und glitzernden Himmel an einem uns beiden fremden Ort der Funke gewesen, der uns zusammengebracht hatte.

Ihre Fähre fuhr sehr früh am nächsten Morgen, sie riss sich los an diesem schönen letzten Abend, um in ihrem Hotel noch ein paar Stunden Schlaf zu haben. Ich wollte ihr noch zum Abschied winken und wir verabredeten uns hier am Hafen, kurz vor dem Auslaufen des Schiffes. Dann ging sie in Richtung Stadt und ich suchte mir am Strand zwischen den Felsen einen Platz für die Nacht, in meinen Schlafsack, neben dem Rucksack.

In der Morgendämmerung wurde ich wach, das Meer war silbrig und ruhig, und kochte mir einen Kaffee. Die große Fähre nach Teneriffa konnte ich schon von hier aus sehen. Ich packte zusammen, schulterte meinen Rucksack, und wartete dann am Kai vor dem Schiff auf Anastasia. Sie kam kurz vor dem Ablegen mit einem Rollkoffer, in Eile. Wir hatten wenig Zeit, sie musste schnell an Bord, die Motoren liefen schon, die Haltetaue wurden gelöst.

In aller Kürze erzählte sie, wie sehr sie das zerbrochene Weinglas noch beschäftigt hatte, und wie sie in der Nacht nach unserem Abschied auf dem Weg ins Hotel noch in viele Kneipen und Restaurants von Santa Cruz gegangen war, um eine boule zu erstehen. Sie wolle mich auf meiner weiteren Reise nicht ohne so ein Glas wissen, das durch ihre Schuld zerbrochen sei. Dann griff sie in ihre Umhängetasche und überreichte mir ein Weinglas, das dem zerbrochenen in allem glich, außer dass es nicht meinem Rucksack entstammte, sondern irgendeiner Nachtbar in Santa Cruz.

Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe. Ich weiß nur noch, dass sie im letzten Moment auf die Rampe gelaufen ist, bevor sie hochgezogen wurde, und dass sie kurz danach auf dem Heck an der Reling erschienen ist, und dass sie winkte und ich winkte, während das Schiff allmählich das Kai verließ, und dass sie und das Schiff immer kleiner wurden, und dass ich in der Morgensonne stand, die alles vergoldete, mit meinem Rucksack und dem Weinglas in der Hand.

 

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